Der Junge von Nebenan
Kapitel 30: Rückkehr
Die Straßen rochen noch immer gleich – nach Beton und feuchtem Laub, nach Abgasen, Altöl und billigem Imbiss-Essen. Leo stieg aus dem Zug wie jemand, der nicht zum ersten Mal heimkommt, aber auch nicht mehr derselbe ist wie damals. Der Bahnhof war grau, die Menschen eilig, die Geräusche vertraut. Und doch war etwas anders. Er trug nicht mehr das Gewicht der Scham, sondern das Gepäck einer Entscheidung.
Er ging zu Fuß. Kein Bus, kein Taxi. Er wollte jeden Meter spüren.
Als er am alten Kiosk vorbeikam, stand derselbe Mann hinter der Scheibe. Der Automat brummte, ein Kind trat gegen einen aufgestellten Müllbehälter. Nichts hatte sich verändert – und genau das traf ihn wie ein Schlag.
Wie lange muss man weg sein, bis etwas wirklich anders wird?
Er bog in die Seitenstraße ein. Vorbei an dem Ort, wo früher Chiko gestanden hatte. Die Wand mit den Graffiti war übermalt worden, doch man sah die alten Farben durchschimmern. Wie Erinnerungen, die sich nicht übertünchen lassen.
Maliks Wohnblock wirkte leerer als sonst. Eine kaputte Schaukel hing windschief auf dem Hof, das Gitter klapperte leise. Leo hielt kurz inne. Er spürte seinen Herzschlag bis in die Fingerspitzen. Dann klingelte er.
Nichts.
Noch einmal.
Wieder nichts.
Leo atmete durch, trat zurück auf den Gehweg. Fragte einen Jungen mit Kapuze, der auf seinem Fahrrad saß und Chips aß.
"Hast du Malik gesehen?"
Der Junge zuckte mit den Schultern, sah Leo an wie einen Fremden.
Bin ich das jetzt? Ein Fremder hier?
Leo ging weiter. Fragte sich durch, klopfte an Türen, nannte seinen Namen. Manche nickten, andere sahen ihn skeptisch an. Einer, ein älterer Mann mit leerem Blick, sagte nur: "Der Kleine? Seit Tagen nicht gesehen. Hat sich mit 'nem Typen rumgetrieben, der Ärger macht. Mit dem, der schon bei Cem dabei war."
Leos Gedanken rasten. Er kannte den Namen nicht – aber er kannte das Muster.
Einer steigt aus, der andere fällt. Und manchmal zieht der Fall mehr mit sich, als man sieht.
Er schluckte. Nicht vor Angst. Vor Wut. Auf sich. Auf die Zeit, die vergangen war. Auf das Schweigen zwischen ihnen.
Abends saß er auf der alten Mauer vor der Turnhalle, in der alles angefangen hatte. Der Mond hing tief, der Wind spielte mit alten Papieren. In seiner Jackentasche fühlte er das Notizbuch. Er schlug es auf, las seinen Brief noch einmal.
Und dann schrieb er neu:
Malik,
ich bin hier.
Nicht, um dir Vorschriften zu machen. Nicht, um dich zu retten.
Aber um zu bleiben.
So lange, bis du wieder auftauchst.
Du hast mir einmal gesagt, du glaubst nicht, dass es Menschen gibt, die bleiben.
Ich will dir zeigen, dass du dich irren kannst.
Vielleicht hast du Angst.
Ich auch.
Aber ich glaube: Wir dürfen die Angst nicht gewinnen lassen.
Ich war da draußen. Und ja – es gibt mehr als das hier.
Aber das hier bist du. Und das bedeutet mir mehr.
Ich geh nicht, bis du mir in die Augen schaust.
Leo
Er riss die Seite nicht heraus. Legte das Buch geschlossen neben sich. Und wartete.
Die Nacht wurde kälter. Der Hof leerer. Doch Leo blieb sitzen. Nicht, weil er nichts Besseres zu tun hatte – sondern weil er wusste: Manchmal braucht Vertrauen einfach Zeit.
Weil manche Antworten nur kommen, wenn man bereit ist, lange genug zu fragen.