Der Junge von Nebenan

Kapitel 3: Das Urteil und die Kette der Beobachtung


Die Luft im Gerichtssaal war dick wie alter Samt, schwer von erwartungsvoller Stille, in der man beinahe das eigene Blut rauschen hören konnte. Jeder Blick war auf den Richter gerichtet, dessen schwarze Robe sich wie ein dunkler Schatten abhob, als er sich nach den Schlussplädoyers der Jugendanwältin und Herrn Mertens erhob.

Leo spürte den pochenden Schmerz in seinen Schläfen, eine Mischung aus Müdigkeit und dem unerträglichen Druck der letzten Stunden. Sein Kiefer war fest zusammengebissen, und unter dem Tisch ballten sich seine Hände unbewusst zu Fäusten. Er versuchte, sich an die Worte der Anwältin zu klammern – "unbelehrbar", "Gefahr für die Gesellschaft" –, doch sie verschwammen in einem dumpfen Dröhnen, das sich in seinem Kopf festsetzte. Er war es gewohnt, in Räumen zu sein, in denen er sich nicht wohlfühlte, aber dieser hier war anders.

Hier ging es um alles. Um ihn.

Auch wenn er die Tragweite noch nicht ganz erfassen konnte – oder wollte.

Während die Jugendanwältin sprach, konnte Leo die kühle Härte in ihrem Blick spüren, die sich fast wie ein Messer in seine Haut bohrte. Die Frau, die ihn so wortgewaltig anklagte, wirkte nicht nur professionell – sie schien selbst von der Härte des Lebens gezeichnet. Hinter der Fassade aber lag eine Spur von Erschöpfung, als trüge sie mehr Last mit sich, als sie zugab.

Der Richter räusperte sich. Seine Stimme war klar und schneidend, als sie die angespannte Stille durchbrach.

"Leo Baumgartner. Das Gericht hat die Anklagepunkte der Hehlerei sowie die Vielzahl der Ihnen zur Last gelegten Vorkommnisse umfassend geprüft. Wir haben die Gutachten des Jugendamtes gehört und die Plädoyers der Staatsanwaltschaft und der Verteidigung abgewogen."

Leos Herz hämmerte gegen seine Rippen. Ein nervöses Zucken lief ihm über das Gesicht. Er wagte nicht, seine Mutter anzusehen, die neben ihm saß und zitterte – ihr leises Atemgeräusch war in der Stille des Saales fast zu hören.

Seine Mutter war eine blasse Gestalt in diesem Raum. Ihre Augen waren glasig, doch hin und wieder huschte ein Ausdruck von Sorge und ungesagtem Bedauern über ihr Gesicht. Sie hatte sich kaum bewegt, als ob jede Bewegung ihr zu viel Kraft kosten würde.

Er konzentrierte sich auf einen winzigen Fleck auf dem polierten Richtertisch, als wäre er der einzige Anker in diesem Sturm, der ihn zu verschlingen drohte.

"Das Gericht ist der Überzeugung", fuhr der Richter fort, "dass Herr Baumgartner eine ausgeprägte Intelligenz besitzt, die er bislang in eine destruktive Richtung gelenkt hat. Gleichzeitig erkennen wir die schwierigen sozialen und familiären Umstände an, unter denen er aufgewachsen ist."

"Eine Jugendstrafe wird zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht als zielführend angesehen, da sie das Potenzial zur Resozialisierung eher behindern als fördern könnte."

Ein leises, erleichtertes Seufzen entwich seiner Mutter, so zart, dass es fast im Raum zerplatzte.

Leo registrierte es kaum – seine Augen blieben starr geradeaus gerichtet.

Er war nicht im Gefängnis.

Aber wirkliche Erleichterung empfand er nicht.

Nur eine seltsame, schale Leere.

Er hatte sich auf das Schlimmste eingestellt, auf Gitterstäbe, die er zu kennen glaubte.

Das hier war etwas anderes – fremder, ungreifbarer.

"Daher hat das Gericht beschlossen: Leo Baumgartner wird nicht zu einer Jugendstrafe verurteilt."

Ein flüchtiger Blick zu Herrn Mertens.

Der Anwalt nickte ihm fast unmerklich zu – ein kleines, kaum sichtbares Zeichen des Triumphes.

Mertens' Miene war gelöst.

Herr Mertens, der ruhige und zurückhaltende Pflichtverteidiger, hatte während der Verhandlung kaum gesprochen, doch seine Augen verrieten mehr als Worte. Ein Blick voller Verständnis und leiser Entschlossenheit, der Leo signalisierte, dass hier mehr als nur juristische Formalität im Spiel war.

Doch Leo empfand noch keine Erleichterung – nur diese seltsame, unbegreifliche Leere.

Was bedeutete das? Keine Zelle, aber auch keine Freiheit.

"Stattdessen", erklärte der Richter mit Nachdruck, seine Stimme schnitt durch die aufkeimende Bewegung im Saal,

"werden Sie zu 200 Stunden gemeinnütziger Arbeit verurteilt. Diese werden Sie in der Seniorenresidenz 'Abendrot' in der Blumenstraße ableisten. Ihre Aufgaben dort werden von der Heimleitung festgelegt und umfassen alle anfallenden Tätigkeiten zur Unterstützung der Bewohner und des Personals."

Sozialstunden.

Leo schnaubte innerlich – ein kaum hörbares Geräusch der Verachtung.

Putzen. Alte Leute füttern. Blödes Zeug anhören.

Er sah vor seinem inneren Auge schon das schmutzige Geschirr, die fleckigen Böden, die welken Gesichter.

Das war doch keine Strafe – das war Zeitverschwendung. Eine Demütigung.

Er war zu Höherem berufen als das.

Mit seinem Hirn, mit seinen Fähigkeiten.

"Zusätzlich", fuhr der Richter fort, und seine Stimme wurde noch ernster,

"werden Sie unter staatliche Überwachung gestellt. Das bedeutet: Sie haben sich täglich persönlich auf dem Polizeirevier zu melden – ohne Ausnahme, von Montag bis Sonntag.

Des Weiteren ist Ihnen jeder Kontakt zu Ihnen bekannten Straftätern, insbesondere zu Mitgliedern der von Ihnen frequentierten Gruppierungen, untersagt.

Bei jeglichem Verstoß – sei es ein versäumter Sozialstunden-Termin, eine ausbleibende Meldung oder ein erneuter Konflikt mit dem Gesetz –

wird die Aussetzung der Jugendstrafe widerrufen. Dann treten Sie Ihre Haft unverzüglich an.

Haben Sie das verstanden, Herr Baumgartner?"

Leo nickte stumm.

Seine Zunge klebte am Gaumen.

"Ja."

Seine Stimme war rau, kratzig – kaum mehr als ein Hauch.

"Gut."

Der Richter schlug mit dem Hammer auf den Tisch.

Ein scharfer, endgültiger Klang, der in Leos Ohren nachhallte.

"Urteil gesprochen. Die Sitzung ist geschlossen."

Die Leute im Saal begannen sich zu regen.

Stühle knarrten, Gespräche flackerten auf.

Herr Mertens legte Leo kurz die Hand auf die Schulter, sein Blick ernst.

"Das war knapp, Leo. Das ist Ihre Chance. Nutzen Sie sie."

Leo wich seinem Blick aus.

Chance?

Er sah nur die Maschen eines unsichtbaren Netzes, das sich immer enger um ihn zog.

Keine Freiheit mehr.

Er war ein Gefangener seiner Vergangenheit –

und jetzt auch ein Gefangener dieses Systems.

Der Weg nach draußen führte nicht mehr durch Gassen und über Dächer.

Er führte durch einen Alltag, der nach Regeln spielte, die er nicht kannte –

und von denen er glaubte, dass sie ihn nichts angingen.

Ein Käfig aus Zeit und Vorschriften.

Am nächsten Morgen stand er vor dem grauen, wuchtigen Gebäude des Polizeireviers.

Der Rucksack mit seinen paar Schulsachen hing schief auf der Schulter.

Der Wind pfiff ihm um die Ohren – aber er spürte nur die kalte Leere in seinem Bauch.

Er trat ein.

Der Geruch von Desinfektionsmittel und Bürokratie schlug ihm entgegen.

Er gab seinen Namen an.

Der Beamte hinter der Scheibe – sein Gesicht ausdruckslos und mechanisch – reichte ihm ein Formular.

Unterschrift. Datum. Uhrzeit.

Der Stempel krachte aufs Papier – ein dumpfer Klang, wie ein Schlag ins Innere.

Wie das Einschlagen seines eigenen Grabsteins.

Er war jetzt offiziell markiert.

Ein Überwachter.

Die Kette war gelegt.

Und er spürte ihr Gewicht mit jedem Schritt, den er zurück in die Welt machte.

Eine Welt, die plötzlich viel kleiner war.

Und viel weniger aufregend.