Der Junge von Nebenan

Kapitel 29: Zwischen den Stimmen


Der Tag nach dem Anruf war sonnig, als wolle der Himmel ihm das Weitergehen leicht machen. Doch in Leos Brust zogen sich die Gedanken zusammen wie Gewitterwolken. Die Einladung zur Trainerausbildung lag vor ihm – real, bedeutend, ein Schritt in eine Zukunft, die so greifbar war wie nie zuvor. Und doch…

Maliks letzte Nachricht war unbeantwortet geblieben. Kein Zeichen. Kein "Ich bin okay". Nur Stille. Und diese Stille war lauter als jedes Wort. Leo trug sie mit sich wie einen Stein in der Tasche, der ihn bei jedem Schritt an etwas erinnerte: Verantwortung.

Er saß im Schatten eines Baumes am Rand des Geländes, das Notizbuch auf den Knien, den Stift in der Hand, doch kein Wort fand seinen Weg aufs Papier. Stattdessen hörte er die Stimmen in seinem Inneren. Sie sprachen nicht laut. Aber sie rangen um Deutung.

"Du hast es geschafft."

"Du darfst stolz sein."

"Aber was ist mit denen, die zurückbleiben?"

Er erinnerte sich an Maliks Frage: "Wer passt auf uns auf?"

Das war kein Vorwurf gewesen. Es war ein Rufen. Ein letzter Versuch, sich festzuhalten an dem, was sie einst gemeinsam getragen hatten: das Versprechen, nicht unterzugehen.

Leo hatte die Chance zu wachsen. Sich zu lösen. Ein neues Kapitel zu beginnen, eines, das ihn weiterführte – geografisch, biografisch, mental. Doch was ist Wachstum, wenn es auf einem Verlust basiert?

Er dachte an David. An das, was er ihm immer wieder gesagt hatte: "Manchmal ist Stärke nicht, weiterzukämpfen. Sondern stehenzubleiben. Nicht, weil du aufgibst – sondern weil jemand anders dich gerade braucht."

Leo schloss die Augen.

In seinem Inneren formte sich ein Bild: Er selbst, zwischen zwei Türen. Die eine hell, weit offen, lockend. Die andere schwer, halb geschlossen, mit Kratzspuren am Rahmen. Hinter der dunkleren hörte er etwas: Atem. Angst. Malik.

Er griff nach dem Handy, scrollte durch die Kontakte und rief David an. Der Empfang war schlecht, doch Davids Stimme klang sofort vertraut – ruhig, klar, ein bisschen rauer als sonst.

"Ich brauche Zeit", sagte Leo. "Ich will die Ausbildung. Ehrlich. Aber nicht, wenn ich Malik verliere. Ich muss wissen, wo er ist. Ob ich ihn zurückholen kann."

Am anderen Ende herrschte kurz Stille. Dann Davids Stimme:

"Dann tu, was du tun musst", sagte er leise. "Aber vergiss nicht, warum du losgezogen bist."

Leo nickte, obwohl David es nicht sehen konnte. Keine große Geste. Kein Pathos. Nur Entschlossenheit.

Er packte an diesem Abend nur das Nötigste: Rucksack, Notizbuch, etwas Geld. Und als der Zug durch die Nacht fuhr, schrieb er wieder:

Malik,
ich weiß nicht, wo du bist.
Aber ich komme. Nicht, um dich rauszuziehen. Sondern um dir zu zeigen:
Du bist nicht vergessen.
Ich hab 'ne Tür gesehen. Eine helle. Eine neue.
Aber vielleicht gehört es zur Stärke, nicht hindurchzugehen –
… bevor man nicht die Tür hinter sich ein Stück weiter geöffnet hat.
Warte auf mich.
Oder lauf nicht weg, wenn ich komme.
Denn diesmal will ich dich nicht zurücklassen.
Leo

Als die Lichter der Stadt langsam am Zugfenster vorbeiglitten, fühlte Leo keine Angst. Nur Entschlossenheit. Noch wusste er nicht, was ihn erwartete. Aber er wusste: Diesen Weg musste er gehen. Für Malik. Für sich. Für das Versprechen, das sie einst einander gegeben hatten – dass keiner alleine bleibt.