Der Junge von Nebenan
Kapitel 28: Prüfung, Schatten, Licht
Der Morgen im Camp war still. Kein Drill, kein Rufen, nur das Rascheln der Bäume im Wind. Etwas lag in der Luft – nicht Angst, eher Erwartung. Heute war Prüfungstag. Kein offizieller Wettkampf, sondern eine Herausforderung hinter verschlossenen Türen. Leo war vorbereitet, dachte er. Doch sein Herz schlug unregelmäßig – nicht wegen des Tests, sondern wegen der Nachricht, die ihn kurz zuvor erreicht hatte.
Malik war verschwunden.
Ein Freund aus dem Viertel hatte geschrieben: Seit Tagen keine Spur von ihm. Kein Lebenszeichen. Jemand hatte gesagt, er sei in etwas reingeraten. Etwas, das Leo nur zu gut kannte – der Schatten der Straße, der dich holte, wenn du zu lange allein warst. Leo starrte auf den Bildschirm seines Handys, als könne er durch Worte verstehen, was nicht zu begreifen war. Malik, sein Kompass, sein Spiegel. Weg.
"Leo." Herr Yamatos Stimme holte ihn zurück. "Du bist dran."
Der Raum, in dem die Prüfung stattfand, war schlicht: Matten, Spiegel, eine leere Tribüne. Keine Zuschauer. Nur Trainer, Schüler, Stille. Leo stand barfuß auf der Matte, spürte den Boden unter sich wie nie zuvor. Und da kam der Gegner – größer, schneller, kampferprobt.
Der erste Schlag traf hart. Leo wich aus, konterte. Doch er war nicht ganz da. Maliks Stimme hallte in ihm nach: "Wer passt auf uns auf?" Wieder ein Treffer, diesmal an der Schulter. Leo taumelte. Nicht der Schmerz schwächte ihn. Es war das Gewicht von Schuld und Sehnsucht. Sein Blick verschwamm. Das war mehr als ein Kampf. Das war ein Urteil.
Dann geschah etwas. Mitten in Bewegung, Schweiß und Gedankenflut erinnerte er sich an Herrn Webers Worte:
"Mut bedeutet nicht, keine Angst zu haben. Sondern zu bleiben, wenn du eigentlich rennen willst."
Leo atmete tief durch. Er kämpfte nicht mehr wie jemand, der gewinnen will, sondern wie jemand, der verteidigt – nicht sich, sondern das, was ihn ausmacht. Malik. David. Das Kind, das er einmal war.
Er ging nicht aufs Risiko, nicht auf Show. Er wich aus, beobachtete, lenkte um. Und als der Gegner den letzten, wütenden Angriff startete, drehte Leo sich zur Seite, ließ die Kraft vorbeirauschen – und bot seine offene Hand an, statt zuzuschlagen.
Stille. Dann ein Nicken des Trainers. Die Prüfung war bestanden.
Am Abend saß Leo auf der Bank am Rand des Geländes. Der Himmel brannte in warmem Orange. Sein Handy vibrierte. Eine unbekannte Nummer.
"Herr Baumgartner? Leo Baumgartner?"
"Ja."
"Ich rufe an wegen des Sozialprojekts 'Perspektive durch Bewegung'. Ihr Trainer hat uns von Ihnen erzählt. Wir suchen jemanden wie Sie – für eine Trainerausbildung mit pädagogischer Ausrichtung. Wenn Sie möchten … wir würden Sie gerne einladen."
Leo sagte nichts. Für einen Moment hörte er nur den Wind. Dann dachte er an Malik. An die Frage, die offen blieb:
Du kannst weggehen. Aber was bedeutet es, zurückzukehren?
Er legte das Handy beiseite. Schaute in den Himmel. Und lächelte. Nicht, weil alles gut war. Sondern weil er wusste:
Das war erst der Anfang.