Der Junge von Nebenan
Kapitel 27: Die Entscheidung
Am Morgen war alles wie immer. Und doch nicht.
Der Flur roch nach Kaffee und Reinigungsmittel, Stimmen hallten zwischen den Wänden, irgendwo klirrte Metall.
Leo stand am Fenster und sah hinaus auf den Hof. Zwei Jungen warfen sich einen Ball zu. Lachten. Stritten. Einer stolperte, fiel, stand wieder auf.
Und da war es. Diese Bewegung.
Dieses Aufstehen.
Er erinnerte sich an sich selbst, damals im Hof hinterm Block. Ohne Ball. Ohne Lachen. Nur mit Wut und der dumpfen Ahnung, dass es mehr geben müsste. Und wie lange es gebraucht hatte, bis jemand ihn sah.
Leo drehte sich vom Fenster weg. Griff nach dem Handy. Tipperte eine Nachricht.
Malik
Ich komm zurück. Noch nicht jetzt. Aber bald.
Ich will, dass du durchhältst. Nicht für mich. Für dich.
Und wenn du fällst – dann steh auf. So wie wir's gelernt haben.
Er schickte die Nachricht ab, ohne zu zögern. Dann atmete er tief durch.
Am Nachmittag suchte er Trainer Daniel König auf.
Kein Zögern in der Stimme, kein Blick zu Boden, als er sagte:
"Ich will es durchziehen. Ich bleib hier, solange es nötig ist. Ich will das Beste rausholen aus dieser Chance. Aber ich will auch was zurückgeben. Denen, die nicht hierherkönnen. Die nicht gesehen werden."
Daniel nickte nur. Lange. Mit diesem Blick, den nur jemand hat, der weiß, wie schwer es ist, einen Weg zu gehen, den man selbst bauen muss.
"Dann mach es richtig", sagte er ruhig.
Am Abend trainierte Leo härter als sonst. Nicht um zu fliehen – sondern um anzukommen. Jeder Schlag, jede Bewegung war ein Ja zu dem, was er werden wollte. Nicht perfekt. Aber bewusst.
Später, als er allein war, schrieb er in sein kleines, zerfleddertes Notizbuch, das Herr Weber ihm einst geschenkt hatte:
"Ich gehe weiter – aber ich nehme euch mit."
Dann legte er sich hin. Und schlief.
Ohne Grübeln. Ohne Flucht.
Nur mit einem inneren Licht, das langsam, aber sicher zu leuchten begann.