Der Junge von Nebenan

Kapitel 26: Die Stimme in mir

Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal wirklich mit mir selbst gesprochen habe.
Nicht das übliche "Reiß dich zusammen" oder "Geh einfach weiter". Sondern ehrlich. Nackt. Ohne Maske. Ohne Pose.

Vielleicht habe ich Angst davor, mich selbst zu hören.

Ich sitze hier, in einem Zimmer, das nicht mir gehört, in einem Leben, das ich mir vielleicht gerade baue – oder verliere.

Und während draußen Stimmen lachen, essen, trainieren, liegt in mir ein stilles Echo, das fragt: Wer bist du, Leo?

Ich dachte, ich hätte es herausgefunden.
Dachte, ich sei stark, weil ich gekämpft habe. Weil ich nicht zurückgefallen bin. Weil ich Malik ein Vorbild sein wollte. Weil ich Herrn Weber nicht vergessen habe.

Aber was, wenn Stärke nicht reicht?
Was, wenn es nicht darum geht, nicht zu fallen – sondern zu wissen, wohin man fällt, wenn alles kippt?
Wer einen auffängt? Oder ob man selbst der ist, der andere fängt?

Malik. Cem. Die Kids im Dojo.

Ich bin gegangen, um ihnen ein besseres Ich zu bringen.
Aber vielleicht war mein Gehen auch ein Weglaufen.
Vielleicht habe ich gehofft, dass Entfernung die Antwort bringt. Eine neue Stadt, ein neues Licht, ein neuer Pfad.

Aber das Alte spricht noch. In mir.
In Nachrichten wie der von Malik.
In Erinnerungen an Cem, der zu oft allein war.
Und an mich, als ich niemanden hatte – bis ein alter Mann sich Zeit für mich nahm.

Vielleicht bin ich hier, weil ich ihm verspreche, es besser zu machen. Für mich. Für die anderen.
Vielleicht war mein Weg nie nur mein Weg.

Und trotzdem… ich will mehr.

Ich will nicht nur zurück und wieder alles auffangen.
Ich will auch sehen, wie weit ich gehen kann.
Nicht aus Ego. Aus Hoffnung.
Dass ich etwas tragen kann, was größer ist als das, was ich war.

Ich glaube, das ist die Wahrheit, die ich nicht sagen wollte:
Ich will wachsen. Aber nicht allein.
Ich will zurückblicken und wissen:
Ich bin nicht nur weggegangen.
Ich bin jemand geworden, der zurückkehren kann – ohne sich zu verlieren.

Ich weiß noch nicht, wie das geht.
Aber vielleicht ist das die Stimme in mir, die ich hören muss.
Die nicht schreit. Die flüstert:

Geh.
Aber vergiss nicht, wer du warst.
Und wer dich gemacht hat.