Der Junge von Nebenan

Kapitel 25: Die Prüfung


Der Tag begann wie jeder andere. Und doch war er anders.

Leo stand früh auf. Nicht weil er musste, sondern weil etwas in ihm wach war, das nicht mehr schlafen konnte. Die Sonne tastete sich durch das kleine Fenster seines Zimmers, warf goldene Streifen auf den Schreibtisch, auf dem sein Notizbuch lag. Der Brief an Herrn Weber war noch nicht ganz geschlossen, als hätte er noch nicht alles gesagt.

Im Camp hatte sich eine neue Form von Alltag eingespielt. Trainieren, lernen, reflektieren. Keine lauten Straßen, keine schnellen Fluchten, kein Adrenalin aus Gefahr. Hier war alles auf Konfrontation mit sich selbst ausgerichtet. Und genau das war schwerer als jeder Kampf im Viertel.

David hatte ihn nicht vergessen. Auch von ihm kamen Nachrichten. Kurz, aber voller Bedeutung:

"Verlier dich nicht da draußen. Erinner dich daran, warum du losgegangen bist."

Leo nickte innerlich, wenn er sie las. Aber erinnern war nicht dasselbe wie fühlen. Und was er jetzt fühlte, war: Er wurde beobachtet.

Nicht im feindlichen Sinn. Eher geprüft.

Ein älterer Trainer im Camp – eine stille Respektperson namens Herr Yamato – war von Japan nach Stuttgart gekommen, um sein umfassendes Wissen in traditionellem Judo und moderner Kampfkunst einzubringen. Er war Mitte fünfzig, von schlanker Statur, mit grauen Schläfen und einem Blick, der sowohl Strenge als auch Mitgefühl ausstrahlte. Sein Gang war ruhig, fast meditativ, und seine Stimme trug die Autorität von Jahrzehnten harter Erfahrung.

Herr Yamato hatte in seiner Karriere nicht nur zahlreiche nationale und internationale Titel errungen, sondern war auch für seine Arbeit mit Jugendlichen aus schwierigen Verhältnissen bekannt. Ein prägendes Erlebnis war für ihn die Arbeit in einem Jugendgefängnis in Tokio, wo er lernte, dass wahre Stärke aus Selbstkontrolle und innerer Balance entsteht – und nicht aus roher Kraft.

Im Camp galt er als Mentor, der mehr mit Blicken und kleinen Gesten lehrte als mit langen Reden. Seine Prüfungen forderten nicht nur den Körper, sondern vor allem den Geist und den Charakter der Jugendlichen.

An diesem Tag wurde Leo zum Einzelgespräch gebeten. Die anderen wussten: Wer diesen Raum betrat, kam nicht als derselbe zurück.

"Leo", sagte Yamato, während draußen der Wind leise an der Wand kratzte, "weißt du, was du hier suchst?"

Leo schwieg.

"Viele kommen her, um zu fliehen. Manche, um zu glänzen. Wenige, um zu wachsen. Aber keiner bleibt, ohne sich zu verlieren. Oder sich zu finden."

Die Worte hingen zwischen ihnen.

"Wenn du glaubst, dein Weg liegt allein hier – dann wirst du eines Tages leer in den Spiegel schauen. Wenn du glaubst, du musst zurück, nur um anderen zu helfen – wirst du dich selbst verlieren."

Leo spürte, wie sich alles in ihm spannte. Fragen, die Malik gestellt hatte. Die Zweifel im Zug. Das Lächeln seiner kleinen Trainingsgruppe. Die Straße, die er nie ganz vergessen hatte.

"Und was… was soll ich dann tun?"

Yamato lächelte kaum merklich.

"Du musst beides tun. Gehen, ohne zu fliehen. Und bleiben, ohne zu verharren. Es gibt keine Landkarte dafür. Nur Spuren. Und du hinterlässt deine eigenen."

Am Abend trainierte Leo länger als alle anderen. Nicht, um etwas zu beweisen. Sondern um zu verstehen, wer er war – in der Stille, im Schweiß, in der Erschöpfung.

Als er allein auf der Matte saß, hörte er ein Geräusch. Ein leises Piepen. Eine Nachricht. Von Malik.

Malik war ein Junge aus Leos Viertel, etwa zwölf Jahre alt, wild und stur, aber mit einem unerschütterlichen Herzen. Leo hatte ihn vor einigen Monaten bei einem der lokalen Kampfsportkurse kennengelernt. Malik war nicht nur ein kämpferischer Geist, sondern auch jemand, der trotz seiner rauen Umgebung und schwierigen Familie nie aufgab. Er war für Leo eine Art jüngerer Bruder, ein Spiegel seiner selbst, der ihn daran erinnerte, woher er kam und warum sein Weg wichtig war.

Cem war ein weiterer Junge aus der Nachbarschaft, etwa im gleichen Alter wie Leo. Sie kannten sich seit der Grundschule, hatten zusammen auf der Straße gespielt und gelegentlich auch gestritten. Cem war impulsiv, hatte oft Ärger am Hals und suchte oft den schnellen Ausweg aus Konflikten – anders als Leo, der langsam lernte, seinen Weg zu gehen.

"Sie haben Cem heute abgeführt. Er hat Mist gebaut. Ich war nicht da. Ich hätte da sein sollen."

Leo starrte auf den Bildschirm. Lange.

Dann öffnete er das Notizbuch. Und begann zu schreiben.

Nicht an Herrn Weber.

Nicht an David.

An sich selbst.