Der Junge von Nebenan
Kapitel 24: Der Spiegelkampf
Der Tag des internen Turniers kam schneller, als Leo erwartet hatte.
Die große Halle war erfüllt von Stimmen, Rufen, Anweisungen. Die Matten lagen sauber und geometrisch ausgebreitet – wie ein Schachfeld für Körper. Die anderen Teilnehmer standen in Gruppen zusammen, manche kannten sich schon lange. Lachen hier, aufmunternde Schulterklopfer dort. Leo stand allein. Aber nicht verloren.
Er erinnerte sich an Davids Worte: "Manchmal wirst du dich wie ein Fremder fühlen. Aber in der Stille liegt deine Stärke." Und an Herrn Weber: "Du kämpfst nicht, um zu siegen – sondern um dich zu erkennen."
Dann wurde sein Name aufgerufen.
Leo trat auf die Matte. Sein Gegner: Luca.
Ein kurzer Blickwechsel. Dann Verbeugung. Dann Stille.
Der Kampf begann.
Luca war schnell, technisch sauber, klug. Leo wich aus, suchte Lücken, spürte, wie seine Atmung sich beschleunigte. Er hatte mehr erlebt als Luca – aber hier, auf der Matte, zählte keine Vergangenheit. Nur der Moment.
Ein Schlag traf ihn an der Seite. Nicht hart, aber präzise. Leo taumelte leicht. Erinnerungen blitzten auf – Gassen, in denen man nicht stolpern durfte. Worte, die trafen wie Fäuste. Doch diesmal blieb er stehen.
Er konterte. Nicht wild. Nicht wütend. Mit Klarheit.
Die Zuschauer sahen einen technisch sauberen Kampf. Doch in Leo tobte mehr. Jeder Schritt war ein Schritt gegen das Alte. Jede Bewegung ein Aufbäumen gegen das Zurückfallen. Und Luca – gut, kontrolliert – war kein Feind. Er war ein Spiegel. Eine Frage: Bist du bereit?
Am Ende war es knapp. Kein eindeutiger Sieger. Die Jury zögerte. Dann das Urteil: Unentschieden. Beide weiter.
Luca nickte ihm zu. "Starker Kampf."
Leo nickte zurück. Mehr brauchte es nicht.
Am Rand der Matte stand ein älterer Trainer, der Leo zuvor nur beiläufig betrachtet hatte. Jetzt trat er vor.
"Du kämpfst mit etwas in dir, das ich nicht oft sehe. Bleib dran."
Leo spürte keinen Stolz. Aber etwas, das tiefer ging. Ein stilles Ja in sich.
Er war nicht nur angekommen.
Er war gesehen worden.
Nicht wegen seiner Herkunft.
Sondern wegen dessen, was er daraus gemacht hatte.
Am Abend schrieb er in sein Notizbuch, das ihm der alte Herr einst geschenkt hatte. Keine langen Sätze. Nur ein Satz:
"Ich bin noch nicht da. Aber ich bin nicht mehr der, der ich war."