Der Junge von Nebenan

Kapitel 23: Zwischen den Welten


Der Tag begann grau, als hätte sich der Himmel noch nicht entschieden, ob er Sonne oder Regen bringen wollte. Leo stand am Fenster seines kleinen Zimmers, das ihm für die Dauer des Camps zugeteilt worden war. Die Scheiben waren leicht beschlagen von seinem Atem. In der Ferne zeichneten sich die Dächer der Stadt ab – neu, fremd, mit Straßen, die er noch nicht kannte, und Menschen, deren Blicke noch keinen Namen trugen.

Das Trainingszentrum wirkte modern, sauber, funktional. Keine Graffitis, kein abgewetzter Putz. Die Duschen funktionierten, der Boden glänzte, und die Räume rochen nach frischer Farbe und Desinfektionsmittel. Fast zu perfekt – ein Kontrast zu dem Viertel, das er zurückgelassen hatte.

Leo zog die Trainingsjacke über, verstaute das Handy in der Tasche und trat hinaus in den Flur. Geschlossene Türen säumten seinen Weg, aus einigen drangen Stimmen: fremd, bestimmt, geschult. Namen wurden gerufen, Anweisungen gegeben. Hier war er nicht mehr Leo Baumgartner, der Junge aus dem Viertel. Hier war er nur ein weiterer Schüler. Ohne Ruf, ohne Geschichte. Nur Bewegung, Technik, Körpersprache.

Im Dojo begrüßte ihn Trainer Daniel König. Ein Mann Mitte dreißig, der mit strengem Blick, aber einem Funken Geduld in den Augen, seinen Gruß knapp, doch respektvoll formulierte. Leo spürte die unausgesprochene Botschaft: Du bist hier, um zu lernen. Ohne Ausreden.

Das Training begann hart. Jeder wollte sich beweisen. Einige der Teilnehmer hatten mehr Technik, mehr Routine. Kein Platz für Sonderbehandlungen, kein Mitleid. Nur Leistung. Genau das trieb Leo an.

Am Ende der Einheit war er erschöpft, aber wach. Die Schläge, das Rollen, das konzentrierte Schweigen zwischen den Partnerwechseln – all das ließ die Fremde für einen Moment verblassen. Sein Körper erinnerte sich, sein Geist folgte.

In der Kantine lernte er Luca kennen. Groß, ruhig, aus gutem Haus. Luca erzählte von seinem Vater, einem Anwalt, und wie Kampfsport für ihn ein Ausgleich zum Druck zuhause geworden war. Ein bedachter Typ, der viel zuhörte und durch seine ruhige Art Respekt gewann. Ihre Gespräche begannen zögerlich, doch als Leo beiläufig einen Trick erklärte, den Luca beim Wurf falsch gemacht hatte, hellten sich dessen Augen auf.

"Du warst schon mal länger dabei, oder?"

Leo zuckte mit den Schultern. "Ich hab gelernt, zu fallen. Oft genug."

Luca nickte, ein leichtes Lächeln spielte um seine Lippen. "Hier zählt nicht, wo du herkommst. Sondern dass du dranbleibst."

In der Nacht lag Leo lange wach. Die Geräusche hier waren anders. Kein Streit im Flur, keine quietschenden Fenster, keine fernen Sirenen. Nur Stille. Und seine Gedanken. Er fragte sich, ob Malik gerade durch die Straßen zog, ob seine Mutter sich fragte, ob er genug gegessen hatte, ob David sich auch fragte, wie es ihm hier ging.

Zwischen zwei Welten – der einen, die ihn geformt hatte, und der anderen, die ihn forderte. Beide waren Teil von ihm. Noch war nichts entschieden. Doch er spürte: In diesem Dazwischen lag eine Kraft. Eine Kraft, die ihn wachsen ließ.