Der Junge von Nebenan
Kapitel 22: Die Ankunft
Der Zug rollte langsam in den Bahnhof Stuttgart-Vaihingen, Nebelschwaden lagen dünn und zerbrechlich über den Gleisen – wie vergessene Gedanken, die noch nicht bereit waren, sich zu lösen. Leo stand im Gang, den Rucksack locker über der Schulter, den Blick fest nach vorn gerichtet. Er konnte das Ziel noch nicht sehen, nur ahnen – als würde die Stadt erst dann ihre Arme öffnen, wenn er selbst bereit war, sie zu betreten.
Die Türen glitten auf mit einem leisen Zischen. Ein kaum spürbarer Moment – und doch spürte Leo, wie er eine Schwelle überschritt. Nicht auf Landkarten verzeichnet. Keine Straßenschilder wiesen darauf hin. Sondern eine innere Grenze: zwischen "Ich war" und "Ich werde".
Er trat hinaus.
Der Bahnhof war klein, die Geräusche gedämpft. Kein Gedränge, kein Trubel. Nur das Rascheln von Schritten auf feuchtem Stein, Stimmen, die gedämpft aus der Ferne kamen. Eine neue Stadt. Und Leo mittendrin – ein Fremder mit einer Geschichte.
Sein Herz schlug schneller. Nicht vor Angst. Sondern weil er wusste: Hier würde sich etwas entscheiden.
Die kühle Luft roch nach Beton, nach Möglichkeiten und nach Arbeit, die vor ihm lag.
Vor ihm lag Kampfsport Stuttgart – sein neues Zuhause für die nächsten Wochen. Ein Ort, an dem aus Kampf mehr wurde als Kraft: Persönlichkeit, Gemeinschaft, Zukunft.
Ein Mann mittleren Alters trat auf ihn zu. Sportjacke mit dem Logo von Kampfsport Stuttgart, ein Klemmbrett in der Hand. Sein Blick war wach, offen und freundlich.
"Leo Baumgartner?"
Leo nickte, seine Stimme kam erst im zweiten Anlauf: "Ja."
"Willkommen. Ich bin Herr Franz – Koordinator und Jugendtrainer im Förderprogramm." Sein Ton war klar, warm. Man spürte, dass er jeden hier ernst nahm.
"Wir fahren gleich ins Camp. Die anderen sind schon da – aber keine Sorge, du bist nicht zu spät. Du bist pünktlich für deinen Anfang."
Im Auto herrschte Stille. Leo sah hinaus, nahm jede Linie der vorbeiziehenden Häuser wahr, die Straßenschilder, die unbekannten Gesichter.
"Ist das dein erstes Trainingslager?" fragte Herr Franz nach einer Weile.
Leo nickte. "Das erste, bei dem ich nicht nur laufen will."
Der Mann schmunzelte. "Dann bist du genau richtig. Wir holen dich persönlich ab, weil wir jeden kennen wollen, der Teil unserer Gemeinschaft wird. Wir helfen dir – nicht nur beim Training, sondern auch auf deinem Weg."
Das Gelände öffnete sich vor Leo wie ein kleines Dorf aus Hallen, Wiesen, schlichten Bauten. Junge Menschen liefen, lachten, maßen sich. Nicht protzig, aber lebendig.
Ein Ort, an dem Talent Richtung finden konnte.
Leo stieg aus. Die Luft war klar, ein leichter Wind trug Stimmen heran.
Er war allein – aber nicht verloren.
Er war angekommen – aber noch lange nicht am Ziel.
Mit festen Schritten ging er auf das Hauptgebäude zu. Keine großen Worte. Kein dramatischer Moment.
Nur ein neuer Boden unter seinen Füßen – und das leise Wissen, dass dieser Anfang kein Ende war, sondern ein Versprechen: Es durfte noch mehr kommen.
Er dachte an Malik. An seine Mutter. An David.
An Herrn Weber.
Dann öffnete er die Glastür.
Und trat ein.