Der Junge von Nebenan

Kapitel 21: Der Brief


Der Zug glitt leise durchs Land, gleichmäßig wie ein Atemzug, der die Welt ein- und wieder ausatmet. Leo saß am Fenster, den Kopf gegen das kühle Glas gelehnt. Draußen zogen Felder, Dörfer, Wälder vorbei – ein stilles Panorama zwischen Vergangenheit und Zukunft. Die Sitzlehne knarrte leise, das Abteil war fast leer. Nur das monotone Schlagen der Räder begleitete seine Gedanken.

In seinen Händen lag kein Blatt Papier – und doch schrieb er. Nicht mit Tinte, sondern mit Erinnerungen.

Lieber Herr Weber,
Du würdest sagen, ich soll mir Zeit nehmen. Dass nicht jede Antwort sofort kommen muss. Dass oft das Wichtigste zwischen den Zeilen steht.

Also schreibe ich dir jetzt. Nicht weil ich weiß, was ich sagen will – sondern weil ich merke, wie viel ich dir noch sagen muss.

Ich sitze im Zug. Auf dem Weg zu etwas Neuem. Weg von Zuhause – oder besser gesagt: weg von dem Ort, an dem früher alles dunkel war. Und trotzdem tut es weh, ihn zu verlassen. Seltsam, oder? Ich dachte, ich würde rennen, sobald die Tür sich öffnet. Aber jetzt… zögere ich. Vielleicht, weil du nicht mehr da bist, um mir hinterherzuwinken.

Ich erinnere mich an unsere ersten Gespräche. Wie du mit deinem Tee da saßt und mich hast reden lassen, auch wenn ich schwieg. Du hast meine Stille ausgehalten, nicht mit Fragen gefüllt, sondern mit Geduld.

Du hast mir zugehört, als ich selbst noch nicht wusste, was ich sagen wollte. Und du hast an mich geglaubt – als niemand sonst es tat, nicht einmal ich.

Das hat etwas mit mir gemacht.

Ich habe oft darüber nachgedacht, wie du wohl meinen Weg sehen würdest. Heute glaube ich: Du wärst stolz. Nicht, weil ich perfekt bin oder alles plötzlich leicht geworden ist. Sondern weil ich versuche, es richtig zu machen. Weil ich nicht mehr vor mir selbst davonlaufe.

Und weil ich gelernt habe, was es heißt, für andere da zu sein.

Ich habe Malik versprochen, zurückzukommen. Ihm gezeigt, dass man es schaffen kann. Und weißt du was? In seinem Blick habe ich denselben Funken gesehen, den ich irgendwann mal in deinem gesehen habe, wenn du mich angeschaut hast.

Ich glaube, das nennt man Hoffnung.

Du hast immer gesagt, der Mensch wird nicht durch seinen Ursprung definiert, sondern durch das, wofür er steht. Ich will für etwas stehen, Herr Weber. Nicht nur weglaufen, nicht nur kämpfen. Sondern etwas aufbauen. Etwas, das bleibt.

Vielleicht bin ich noch nicht ganz da. Aber ich bin unterwegs. Und das verdanke ich dir.

Wenn ich aus diesem Zug steige, beginnt ein neues Kapitel. Du bist nicht mehr an meiner Seite – aber du bist in mir.

In jedem Schritt. In jedem Gedanken, der mir sagt: "Leo, du kannst das."

Danke, dass du da warst, als ich dich am meisten gebraucht habe.
Danke, dass du geblieben bist – auch jetzt noch.

Dein Leo

Draußen wurde die Landschaft heller, weicher, als der Zug sich Stuttgart-Vaihingen näherte – dem Ort, an dem Leo seine neue Etappe beginnen sollte. Er blinzelte gegen das Licht, das durch die Fenster fiel, richtete sich langsam auf und atmete tief durch.

Der Brief war geschrieben – nicht mit Stift, sondern mit Herz. Und irgendwo tief drinnen spürte Leo, dass der alte Herr ihn gelesen hatte.