Der Junge von Nebenan
Kapitel 20: Abschied in Etappen
Der Tag begann wie jeder andere. Dieselben Geräusche, dieselben Gesichter auf der Straße, dieselbe Luft, nach Beton, Abgasen und einer Prise zu viel Vergangenheit. Und doch war alles anders.
Leo ging langsamer als sonst. Jeder Schritt durch das Viertel ein Blick zurück – zu den Mauern, die ihn geformt hatten, zu den Ecken, an denen er gefallen war, zu den Fenstern, hinter denen seine alten Träume lagen.
Sein Rucksack war leicht. Nur das Nötigste drin. Den Rest – Erinnerungen, Narben, das, was wirklich zählt – trug er ohnehin bei sich.
Am Dojo blieb er stehen. Aus dem Inneren drang das Poltern von Füßen auf Matten, das scharfe Ausatmen bei einem Schlag. Die Jüngeren trainierten, geführt von einem der Älteren. Leo fühlte Stolz – und einen kaum spürbaren Stich Wehmut.
David trat aus der Tür, als hätte er ihn erwartet.
"Alles klar?" fragte er leise.
Leo nickte. "Ich geh nicht weg. Ich geh nur ein Stück weiter."
David grinste, klopfte ihm auf die Schulter.
"Genau die richtige Einstellung. Mach dein Ding. Und komm zurück, wenn du soweit bist."
Leo schwieg. Dann reichte er ihm die Hand. Mehr als ein Handschlag. Ein stilles Versprechen.
Auf dem Weg zum Bahnhof ging er am kleinen Friedhof vorbei. Der Hügel lag still in der Sonne. Das Grab von Herrn Weber schlicht – wie der Mann selbst.
Leo setzte sich neben den Stein, ließ die Finger über die verwitterten Buchstaben gleiten.
"Ich geh jetzt", flüsterte er.
Dann schweigte er lange.
"Aber ich komm wieder. Nicht, weil ich muss – sondern weil ich will."
Ein leiser Wind fuhr durch die Bäume. Kein Zeichen. Kein Wunder. Nur der Frieden eines Versprechens.
Am Bahnsteig wartete Malik. Kapuze tief, Hände in den Taschen.
"Ich bring dich nicht weg. Ich pass nur auf, dass du wirklich gehst."
Leo grinste.
"Willst du etwa mein großer Bruder sein?"
"Ich war immer der Klügere", sagte Malik trocken. Doch seine Stimme verriet mehr: Stolz, Schmerz und diese stille Hoffnung, die bei Jungs wie ihnen selten laut wird.
Der Zug kam.
Leo stieg ein. Noch einmal sah er zurück. Dann schloss sich die Tür.
Die Stadt verschwand nicht. Sie rückte nur ein Stück weiter weg.
Und Leo – Leo begriff, dass Abschied nichts Endgültiges ist.
Es war ein Schritt.
Ein Übergang.
Ein leiser Schnitt zwischen dem, was war, und dem, was sein könnte.