Der Junge von Nebenan
Kapitel 2: Die Waage der Gerechtigkeit
Der Schlag, den Leo nicht hatte kommen sehen, war nicht die Faust eines Polizisten, sondern die kalte Realität des Verhörraums. Hier, fernab der Gassen und der flüchtigen Freiheit des Daches, roch es nicht nach Adrenalin, sondern nach Angst und billigem, abgestandenem Kaffee. Die Handschellen klickten leise, als ein schlaksiger Mann in einem viel zu formellen, aber akkurat sitzenden Anzug den Raum betrat. Sein Blick war nicht herablassend, nicht herzlich – eher der eines Schachspielers, der prüft, ob die Partie noch zu retten ist.
"Leo Baumgartner? Ich bin Herr Mertens, Ihr Pflichtverteidiger."
Die Stimme war ruhig, sachlich. Kein Lautsprecher wie Chiko oder Hassan – eher ein Ton, der einfach im Raum stand. Präsenz ohne Druck.
"Wir haben wenig Zeit. Die Anklage lautet auf Hehlerei, und die Staatsanwaltschaft drängt auf eine Jugendstrafe. Ihr Alter macht die Sache kompliziert, aber das ist Ihre erste offizielle Verhandlung."
Leo zuckte mit den Schultern. Wieder jemand, der ihm sagen wollte, was er tun sollte. Seine Hände, eben noch flink auf dem Display, lagen jetzt unruhig ineinander verschränkt. Er fixierte einen Fleck an der Wand – vertrockneter Kaugummi vielleicht – als wäre er das einzig Relevante in diesem sterilen Raum.
"Ich hab nichts gemacht."
Mertens seufzte leise, zog sich einen Stuhl heran und setzte sich direkt gegenüber. Kein Schreibtisch dazwischen, kein Abstand.
"Hören Sie, Leo. Ich bin hier, um Ihnen zu helfen. Aber dafür muss ich verstehen, was passiert ist – und warum."
Er blätterte in einer dünnen Akte, deren Seiten nur leise flüsterten.
"Ladendiebstähle seit Ihrem elften Lebensjahr. Sachbeschädigung. Cyberbetrug. Die Verfahren wurden eingestellt – Strafunmündigkeit. Aber heute sind Sie vierzehn. Heute gilt: Es wird ernst."
Mertens' Blick bohrte sich durch Leos Mauern. Kein Druck, keine Aggression – nur eine fordernde Stille.
"Ihre Mutter ist überfordert. Sie kann nicht helfen. Sie weint nur. Sagt, Sie seien schon immer… schwierig."
Kurze Pause. Dann leiser:
"Ich glaube nicht an schwierige Kinder, Leo. Ich glaube an Kinder, denen niemand gezeigt hat, wie es anders geht."
Mertens schob seine Brille höher und atmete durch, als wolle er einen Moment gewinnen, den es in diesem Raum nicht gab.
"Ich war mal Lehrer, bevor ich Jurist wurde", sagte er leise.
Leo blinzelte.
"Drei Jahre. Hauptschule. Ich habe jeden Tag erlebt, wie Kinder sich unsichtbar machten. Und wie Erwachsene es ihnen zu leicht machten, darin zu verschwinden."
Pause. Kein Mitleid in der Stimme – nur etwas, das gefährlich nah an Verständnis klang.
"Ich hab aufgehört zu unterrichten, als einer von ihnen vor einen Zug sprang."
Leo wich seinem Blick aus. Es war diese Art von Moment, die sich tief in eine Mauer frisst, ohne dass sie sofort zu bröckeln beginnt.
Für einen Moment wirkte Mertens abwesend – als würde er an jemanden denken. Vielleicht ein anderer Mandant. Oder jemand aus seiner Vergangenheit. Doch dann richtete er sich wieder auf, mit dieser eigentümlichen Ruhe in der Stimme.
"Wissen Sie, Leo", sagte er langsam, "ich hab mal einen Jungen vertreten, der nie gelernt hatte zu fragen, wenn er was brauchte. Er hat genommen. Weil Bitten nie beantwortet wurde."
Leo schwieg.
"Der Junge war ich", sagte Mertens leise. "Damals hat mir einer gezeigt, dass Nein nicht das Ende ist. Sondern manchmal der Anfang."
Wieder diese Stille. Kein Pathos. Nur: Angebot.
Etwas regte sich in Leos Brust. Kein Zorn – eher Irritation. Eine Art Neugier, die sich nicht abstellen ließ. Niemand hatte je so mit ihm gesprochen. Ohne Geschrei, ohne Urteil. Mertens versuchte, durch den Panzer zu blicken – den Panzer, den Leo sich so sorgfältig aufgebaut hatte.
Rückblende: Zehn Jahre alt.
Ein nasskalter Herbsttag. Die Schultasche leer, kein Pausenbrot. Zu Hause: Leere. Der Kühlschrank – bloß ein weißer Kasten mit einem brummenden Herz aus Nichts.
Die Mutter saß apathisch vor dem Fernseher, Telenovela in Endlosschleife.
Draußen: Chiko und Hassan.
In der Bäckerei füllten sie sich die Taschen mit Keksen.
Chiko hatte ihn gesehen, sein Grinsen war eine Falle.
"Na, hast du Eier? Oder willst du verrecken, du kleiner Penner?"
Leo zögerte. Der Hunger war ein brennender Nagel im Bauch. Die Angst, erwischt zu werden, nagte. Aber schlimmer war der Gedanke, dass Chiko ihn als Feigling sah.
Er griff nach dem Brötchen.
Es war nicht das Brot. Es war die Einladung in eine Welt, in der man nicht allein war.
Chikos Lachen war laut, aber nicht fröhlich. Es klang, als würde er sich selbst übertönen wollen.
"Die Spießer da drinnen haben keinen Schimmer", sagte er, "die denken, du bist nix. Machst du was, bist du was."
Leo wusste nicht, was genau dieses "was" sein sollte. Nur, dass Chiko es besaß – diese Art von unsichtbarer Macht, die Türen öffnete, ohne dass man klopfen musste.
Chiko war keine Karikatur von einem Gangster. Er lachte leise, wenn andere schrien. Und seine Faust traf nie, bevor sie nicht vorher ein Lächeln geschickt hatte.
"Wenn du willst, dass dich einer respektiert, musst du zuerst tun, als wärst du keiner von diesen Opfern", hatte er gesagt.
Leo wusste nie genau, ob er gemeint war. Oder ob Chiko sich selbst damit meinte. Vielleicht beides.
"Ihr Vater ist früh gegangen", fuhr Mertens fort, als würde er Leos Gedanken lesen. "Hat er Ihnen Regeln beigebracht? Oder haben Sie sie auf der Straße gelernt?"
Leo knurrte – ein Laut, der mehr verdeckte als zeigte.
"Was hat das damit zu tun?"
"Alles", sagte Mertens ruhig.
"Die Jugendanwältin wird das gegen Sie wenden. Dass Sie zu klug sind für Ihre Taten. Dass Sie berechnend handeln. Meine Aufgabe ist es, zu zeigen, dass hinter all dem ein Junge steckt. Kein Täter, sondern jemand, der sucht: Zugehörigkeit, Wert."
Gerichtssaal.
Nur halb gefüllt, aber jeder Blick traf wie ein Urteil.
Das Licht kalt, die Bänke hart, die Luft voller Bedeutung.
Die Jugendanwältin – strenger Zopf, scharf geschneiderter Anzug – sprach in schnellem Juristendeutsch über Leos "kriminelle Energie", seine "Gefährdung für andere".
Sie projizierte Fotos: die gestohlene Konsole, Chatverläufe von geklonten Handys. Jeder Klick ein Stich.
Leos Mutter schrumpfte neben ihm, in einem ausgewaschenen Fleece-Pullover, als könne sie sich unsichtbar machen. Ihre Augen glänzten, ihre Hände klammerten sich an die Tasche.
Ihre Zitterbewegung verriet mehr als Worte.
Seine Mutter zitterte. Aber nicht aus Kälte. Ihre Augen waren glasig, doch es war keine Leere. Es war Überforderung.
Leo erinnerte sich, wie sie früher beim Einschlafen mit ihm gesungen hatte – schräg, aber weich.
Jetzt war nichts mehr weich an ihr. Nur noch müde Haut und ein Pullover, der zu oft gewaschen worden war.
Er hasste sie nicht. Aber er verzieh ihr auch nichts. Noch nicht.
Die Begriffe prallten an ihr ab wie Regen an Glas.
Jugendgerichtsgesetz. Resozialisierung. Sozialprognose.
Für sie war es eine Fremdsprache – aber eine, die über ihren Sohn entschied.
Leo spürte ihren Scham, ohne dass jemand sie aussprach.
Mertens erhob sich.
Die Krawatte: makellos. Die Stimme: ruhig, aber mit Tragweite.
"Euer Ehren, wir sehen hier keinen Kriminellen. Wir sehen einen Jugendlichen, der in einem System aufgewachsen ist, das ihn zu vergessen drohte. Die Gang: seine Familie. Die Straße: seine Schule. Der schnelle Gewinn: seine Chance, überhaupt gesehen zu werden."
Rückblende: Zwölf Jahre alt.
Die Mutter hatte einen neuen Freund. Fettige Haare, Bierflaschen am Boden, laute Musik.
Die Wohnung wurde stiller.
Leo wich aus – in die Straße.
Chiko zeigte ihm, wie man Handys klont. Wie man mit falschen Identitäten Leute übers Ohr haut.
"Dafür brauchst du Hirn", sagte Chiko. "Und du hast's. Mehr als diese ganzen Spießer."
Leo wuchs. Nicht in Zentimetern, sondern in Bedeutung.
Zum ersten Mal war er nicht überflüssig.
Es war eine Art Anerkennung, ein kalter Stolz, den er zu Hause nie bekommen hatte. Sein Vater? Nur ein Name, den seine Mutter nie aussprach, ein Schatten, der nie existiert hatte, dessen Abwesenheit aber wie ein unstillbares Loch in ihm klaffte.
"Was Sie hier sehen", fuhr Mertens fort, "ist ein Junge, der gelernt hat, sich zu tarnen. Die Maske der Gleichgültigkeit schützt ihn – aber darunter ist jemand, der schreit. Nicht laut. Sondern tief. Nach einer Chance."
Leo starrte weiter auf den Fleck an der Wand, doch innerlich vibrierte etwas. Nicht Hoffnung – noch nicht. Aber ein erster Riss im Beton.
Die Jugendanwältin konterte. Scharf.
Ein Exempel müsse statuiert werden.
Leo hörte ihre Worte nicht. Nur das unsichtbare Netz, das sich enger um ihn zog.
Er wollte rennen. Brüllen. Aber er saß still. Die Maske fest im Gesicht.
Und wartete, wie die Waage der Gerechtigkeit ausschlagen würde.