Der Junge von Nebenan
Kapitel 19: Die Tür nach draußen
Die Einladung kam mit der Post. Kein großes Schreiben, kein offizieller Umschlag. Nur ein schlichtes Blatt Papier, auf dem in sauberer Handschrift das Logo des Trainingscamps prangte. Eine Woche außerhalb der Stadt. Intensive Einheiten, Persönlichkeitscoaching, Begegnungen mit anderen jungen Athleten. Am Rand eine Notiz von David:
"Ich hab dich empfohlen. Überleg's dir gut."
Leo starrte lange auf die Zeilen. Das Papier fühlte sich schwer an, als hielte es mehr als nur Worte. Mehr als ein Camp. Es war ein Versprechen. Eine Tür. Eine Frage, die in der Luft hing, unsichtbar, aber spürbar.
Den Nachmittag verbrachte er mit den Kindern im Dojo. Er korrigierte Haltungen, lobte kleine Fortschritte, erzählte von seinen eigenen Anfängen. Niemand wusste von dem Brief. Noch nicht.
Am Abend saßen sie auf der Bank hinter dem alten Sportplatz. Malik neben ihm, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Er war stiller als sonst, sein Bein wippte nervös im Rhythmus einer unsichtbaren Unruhe. In der Ferne gellten Stimmen, irgendwo brach lautes Lachen durch die Dunkelheit.
Leo wollte etwas sagen, doch die Worte klemmten hinter den Zähnen. Dieses Schweigen – kein Desinteresse, sondern ein Ringen, ein Suchen nach Halt im Unausgesprochenen.
Malik sprach zuerst.
"Du hast die Chance, wegzugehen, Leo. Du kannst alles hinter dir lassen." Seine Stimme war leise, fast zerbrechlich. "Aber was ist mit denen, die hierbleiben? Wer passt auf uns auf?"
Leo drehte den Kopf. Die Laterne über ihnen flackerte, warf ein wackelndes Licht auf Maliks Gesicht im Halbschatten – den trotzigen Blick, der nicht mehr ganz trotzig war. Die Müdigkeit dahinter. Die Angst, die keiner aussprach.
"Ich weiß es nicht", sagte Leo ehrlich. "Vielleicht kann ich mehr helfen, wenn ich weitergehe. Vielleicht ist das der einzige Weg, stärker zu werden. Aber vielleicht…" – seine Stimme sank – "…ist es auch eine Flucht."
Sie schwiegen. Ein Windstoß wirbelte trockene Blätter über den Asphalt. Die Stadt schlief nicht, sie döste nur – mit einem halboffenen Auge, wachsam wie immer.
"Ich hab nie gedacht, dass du's schaffst", sagte Malik dann. "Aber du hast uns allen gezeigt, dass es geht. Wenn du gehst… dann geh mit Stolz. Nicht mit Schuld."
Leo senkte den Blick. Etwas in ihm spannte sich, ein Knoten aus Erinnerung und Hoffnung. Gleichzeitig löste sich etwas anderes – leise, kaum merklich.
In jener Nacht lag er lange wach. Der Brief lag offen auf dem Schreibtisch, daneben das alte Schachbrett, das Herr Weber ihm hinterlassen hatte. Ein letzter Zug fehlte noch. Er würde ihn setzen – aber nicht heute.
Die Tür stand offen. Noch war niemand hindurchgegangen.