Der Junge von Nebenan
Kapitel 18: Der Blick zurück
Leo saß auf der Bank vor dem Trainingsraum. Dieselbe Bank, auf der er vor Monaten zum ersten Mal gezögert hatte, das Dojo überhaupt zu betreten. Jetzt trug sie sein Gewicht anders – nicht als Last, sondern als Moment der Sammlung. Die Entscheidung hing in der Luft, wie ein hauchdünner Wind, der kaum spürbar war, aber alles in Bewegung setzen konnte.
"Was, wenn ich's nicht pack?"
Die Stimme kam von rechts. Malik. Zwölf Jahre alt. Stur, wild, und doch mit einem Herz, das jede Abwehr durchbrach, wenn man genau hinsah.
Leo wandte sich zu ihm, sah das Zögern in seinen Augen.
"Was meinst du?"
"Den Sprung. Raus. Ins Gymnasium. Ich hab 'ne Einladung. Förderklasse. Aber ich bin nicht wie die. Die reden anders. Denken anders. Ich… ich gehör doch hierher, oder?"
Leo schwieg. Gedanken spiegelten sich wie trübe Fenster in seinem Blick. Zu viele Spiegel. Zu viele Fragen.
"Weißt du, was mir mal jemand gesagt hat?"
Malik schüttelte den Kopf, Augen groß.
"Die Leute, die am meisten Angst vorm Gehen haben, sind oft die, die am meisten zu geben hätten – gerade da draußen."
Malik sah ihn an, die Mischung aus Trotz und Hoffnung in seinem Blick leuchtete im späten Licht.
"Gehst du?"
Leo sagte nichts. Stattdessen legte er ihm sanft die Hand auf die Schulter – eine kleine Geste, die mehr sagte als Worte. "Egal, wo du bist – bleib du. Dann verlierst du dich nicht."
Später am Abend saß Leo mit seiner Mutter am Küchentisch. Der Raum war still, nur der leise Klang von Teetassen füllte die Stille. Sie trank Tee, er spielte mit dem Zettel für das Camp in seiner Tasche.
"Du bist ruhiger geworden", sagte sie plötzlich, ihre Stimme weich.
Er hob den Blick. "Wie meinst du das?"
"Früher warst du wie ein Motor, der heiß lief – egal ob was zu tun war oder nicht. Jetzt… du denkst, bevor du reagierst. Ich seh das."
Ein leiser Moment, gefüllt mit unausgesprochenem Verständnis.
"Ich hab ein Angebot bekommen", sagte Leo schließlich.
Sie sah ihn an, abwartend. Kein Schrecken. Kein Jubel. Nur dieser Blick, der sagte: Ich bin da.
"Weg von hier?"
Er nickte.
Sie umschloss die Teetasse mit beiden Händen, als würde sie sich an dem Gedanken wärmen.
"Du weißt, dass du hier immer einen Platz hast. Aber du schuldest diesem Ort nichts mehr. Schon gar nicht mir."
Leo wollte etwas sagen – Danke. Ich bleib. Ich weiß es nicht. Doch das Schweigen zwischen ihnen war weich, wie ein gemeinsames Tuch, das sie hielten.
Am nächsten Morgen stand Leo am Grab von Herrn Weber. Der Wind strich sanft durch das bunte Herbstlaub, das leise raschelte. Die Efeuranken glänzten vom Tau. Er sprach leise, fast mehr zu sich selbst als zu dem Stein.
"Ich hab ein Angebot. Ich könnte weg. Weitergehen. Mehr lernen. Mehr tun. Aber… was ist mit hier? Mit Malik? Mit dem Viertel?"
Er hielt inne. Die Stille antwortete nicht, doch sie ließ Raum.
"Du hast gesagt: Stärke heißt nicht nur bleiben. Sondern wissen, wann man losgeht. Vielleicht… kann ich mehr tun, wenn ich erst weg bin. Vielleicht muss ich raus, um wirklich zurückkommen zu können – eines Tages. Nicht als der Junge von nebenan. Sondern als der, der etwas verändern kann."
Ein Vogel landete auf dem Stein – ein Rotkehlchen, zart und unaufgeregt. Für einen Moment schien die Zeit stillzustehen. Alles wirkte leicht, klar.
Leo lächelte leise. Und ging.