Der Junge von Nebenan

Kapitel 17: Einladung ins Ungewisse


Es war ein Montag wie jeder andere. Oder hätte einer sein sollen. Leo stand noch verschwitzt in der Umkleide des Dojos, das Handtuch locker um den Nacken gelegt, als David zu ihm trat. In der Hand hielt er einen Brief. Kein Amtszettel, keine Werbung, keine Schulbescheinigung. Nur weißes Papier. Ein Emblem in der Ecke. Klare Schrift. Schwerer als bloßes Papier.

"Für dich", sagte David, und reichte ihn wortlos.

Leos Finger zitterten leicht, als er das Siegel brach. Nur wenige Zeilen – doch sie schlugen lauter in ihm ein als jeder Gong im Training.

"Leo Baumgartner – aufgrund Ihrer Leistungen und Ihres außergewöhnlichen Engagements im Bereich Jugendförderung und Kampfsport laden wir Sie herzlich ein, an unserem mehrwöchigen Förderprogramm bei Kampfsport Stuttgart teilzunehmen – mit Fokus auf pädagogisch orientiertem Training, Persönlichkeitsentwicklung und integrativer Jugendförderung. Unterkunft, Training, Schulbegleitung inklusive… Bei erfolgreicher Teilnahme Aussicht auf Stipendium…"

Er las die Zeilen zweimal. Dann ein drittes Mal. Die Worte standen da, fest, als wollten sie keinen Zweifel lassen.

Doch Zweifel waren das Erste, was in ihm aufstieg.

David sah ihn an. Lange, ruhig. Ein Blick, der mehr sagte als Worte.
"Es ist eine Chance. Keine einfache. Aber echt."

Leo nickte langsam.
"Und wenn ich sie nicht will?"

David zögerte kaum.
"Dann ist das auch eine Entscheidung. Aber keine, die du leichtfertig treffen solltest."

Der Abend kroch durch die Straßen, schwer und langsam. Leo ging zu Fuß nach Hause, den Brief wie einen Schatz in der Jackentasche vergraben – als müsste er ihn beschützen. Oder sich selbst davor.

Die Stadt war dieselbe. Kinder spielten zwischen Mülltonnen, irgendwo drang lautes Fernsehen aus einem Fenster, ein alter Mann fluchte leise über sein Fahrradschloss. Alles wie immer.

Aber in Leo war nichts wie immer.

Er dachte an das Viertel. An die Jungs, die zu ihm aufblickten, wenn er die Matte betrat. An das Mädchen mit den viel zu großen Boxhandschuhen, das letzte Woche zum ersten Mal ein lautes "Kiai!" gerufen hatte. An seine Mutter, die neulich zum ersten Mal gefragt hatte: "Wie war dein Training?" – und es wirklich gemeint hatte. An das Seniorenheim. An das Grab mit dem Efeu. An Herrn Webers Stimme, die manchmal in ihm auftauchte, wenn es still wurde:

"Stärke zeigt sich nicht im Festhalten. Sondern im Wissen, wann man gehen muss – und warum."

Er dachte an das Revier. An das letzte Mal, als er durch die Glastür trat, aussagte, ruhig, klar, ohne Hass. An den Moment, als der Polizist die Hand hob. Kein Urteil. Nur ein stilles Zeichen: Du hast etwas richtig gemacht. Und daran, wie er weiterging.

Am nächsten Tag sprach er mit David. Nicht viel. Nur seine Gedanken.

"Wenn ich gehe… was passiert mit den Kids?"

"Vielleicht schauen sie dann noch höher zu dir auf. Weil du vorgemacht hast, dass es geht."

"Und wenn ich bleibe?"

"Dann kannst du direkt helfen. Aber… vielleicht nicht in dem Ausmaß, das dir möglich wäre."

Leo wusste: Es war kein Test. Keine Falle. Nur Wahrheit – verpackt in Möglichkeiten.

Abends, in seinem Zimmer, war alles wie immer. Der Kleiderschrank quietschte, die Lampe flackerte leise. Auf dem Schreibtisch lag der Brief. Und ein leeres Blatt.

Er begann zu schreiben. Nicht an David. Nicht an seine Mutter. Sondern an Herrn Weber.

"Ich weiß nicht, was richtig ist. Ich weiß nur, dass ich nicht mehr derselbe bin. Du hast mir beigebracht, dass jeder Weg Mut braucht – und dass man dabei niemanden verlieren muss, wenn man sein Herz nicht verliert. Ich frage mich, ob ich gehen darf, obwohl ich hier gebraucht werde. Und ob ich wirklich wachse, wenn ich bleibe. Vielleicht ist das Leben genau das: nie eindeutig. Aber ich hab gelernt, zu stehen. Und wenn nötig, zu gehen. Ohne zu fliehen. Ich hoffe, du wärst stolz."

Er faltete den Brief behutsam, legte ihn unter den kleinen Holzstein, den Herr Weber ihm einst geschenkt hatte.

Dann legte er sich hin.

In der Stille hörte er sein Herz pochen.

Nicht vor Angst.

Nicht vor Überforderung.

Sondern vor einer Frage, die größer war als jede Prüfung, die er je bestanden hatte:

Was bedeutet Weitermachen – wirklich?