Der Junge von Nebenan

Kapitel 14: Der Kampf um die Freiheit


Die Nacht war scharf wie Glas. Kalte Luft schnitt Leo bei jedem Atemzug, als er langsam auf die Gasse zusteuerte. Sie roch nach Müll, Beton und alten Geschichten. Zwischen den schmutzigen Mauern stand Chiko, breitbeinig, das Grinsen zynisch wie eine Rasierklinge. In seiner Hand ein Schraubenschlüssel, der in der Dunkelheit glitzerte – kein Messer, aber gefährlich genug, um Schmerz zu versprechen. Neben ihm: Hassan und zwei andere, stumm wie Schatten, voll gierig nach Gewalt.

"Da kommt unser Musterschüler", höhnte Chiko, seine Stimme hallte zwischen den Wänden.
"Hab schon gedacht, du versteckst dich hinter deinem Strebertraining."

Leo hielt inne. Drei Schritte entfernt. Nah genug, um getroffen zu werden. Nah genug, um gehört zu werden.
Sein Herz pochte nicht wild – es schlug tief und gleichmäßig, wie ein Trommelschlag von innen. Er atmete durch, ließ den Atem bis in den Bauch sinken, ließ ihn dort ruhen.

"Ich bin nicht hier, um mitzumachen", sagte er ruhig, klar – wie ein Strich Tinte auf weißem Papier.
"Ich bin hier, um euch zu sagen: Ich bin raus. Und ihr lasst mich – und die, die mir wichtig sind – in Ruhe."

Das Grinsen fiel von Chikos Gesicht wie zerbrochenes Glas. Für einen Moment war nur Schweigen. Dann verengten sich seine Augen zu Schlitzen.

"Wichtig? Du meinst den alten Mann? Oder den Hampeltrainer, der dir beibringt, wie man tanzt?"
Dann trat er einen halben Schritt vor, die Stimme tief und leise:
"Ich hab dich gemacht, Leo. Ohne mich wärst du nichts. Denkst du, dieser David hätte dir zugehört, wenn du ein Niemand gewesen wärst?"

"Du bist, was ich aus dir gemacht hab. Und du gehörst uns."

Neben ihm trat Hassan aus dem Schatten, den Blick auf Leo gerichtet – nicht zornig, eher prüfend.
"War auch mal draußen, weißt du. 'Ne Woche. Dachte, ich krieg das hin. War witzig."
Er grinste, doch das war ein Grinsen ohne Licht.
"Du kommst immer zurück. Die Straße vergisst nicht, Leo. Niemals."

Dann kam Chiko. Schnell. Der Schraubenschlüssel blitzte auf, ein Hieb wie ein Ausrufezeichen.
Leo wich aus. Nicht instinktiv, nicht panisch – kontrolliert. Ein Schritt, eine Drehung, ein Auslenken. Chikos Schlag schnitt durch die Luft, traf nichts. Leo leitete die Bewegung weiter. Chiko stolperte – nicht viel, aber genug.

Hassan stürmte von der Seite. Faustschlag. Leo blockte, spürte den Aufprall, doch er hatte gelernt, den Schmerz zu parken, wie man ein Auto am Straßenrand abstellt. Ein Tritt folgte, zielte auf sein Knie – Leo drehte sich weg, elegant, flüssig, fast tänzerisch. Kein Kämpfer in diesem Moment – ein Spiegel, der nur zurückwarf, was ihm entgegenkam.

Schlag um Schlag zog vorbei.
Er hätte treffen können.
Er hätte zuschlagen können. Nur einmal. Nur um Ruhe zu haben.
Aber das war der alte Weg. Der einfache. Der leere.
Er ließ es. Und blieb. Still und in Bewegung.

"Was zur Hölle machst du da?" Chikos Stimme war hoch, kratzig.
Noch ein Schlag, diesmal seitlich. Leo duckte sich, glitt unter dem Schlag hindurch, kam hinter ihm wieder hoch – hätte zuschlagen können. Ein Impuls zuckte durch seine Fäuste.

Aber David hatte gesagt: Nicht der Körper entscheidet. Der Wille entscheidet.

Er blieb ruhig. Kontrolliert. Zentriert.

"Ich verteidige mich", sagte Leo, sein Atem ruhig.
"Ich kämpfe nicht gegen euch. Ich kämpfe für mich."

Sekundenlang nur das Echo. Dann – Sirenen. Blaulicht schnitt durch die Gasse wie ein Schwert aus Licht. Reifen quietschten. Türen klappten. Schritte. Stimmen.

"Bullen!" Chikos Schrei war schrill. Panik riss die Gang auseinander wie Papier im Wind. Einer links, einer rechts – weg. Chiko zögerte kurz, sah Leo an. Hass brannte in seinen Augen wie Frost. Dann verschwand auch er, ein Schatten unter vielen.

Leo stand da. Allein. Zitternd. Aber aufrecht.

Zwei Polizisten stiegen aus. Einer kannte ihn. Der mit dem Aktenordner im Kopf.

"Herr Baumgartner? Was machen Sie hier?"

Leo hätte lügen können. Es wäre einfach gewesen. Aber er tat es nicht.

"Ich wurde angegriffen", sagte er. Seine Stimme war fester als seine Knie.
"Von Chiko und den anderen. Ich habe mich geweigert, bei ihrem Scheiß mitzumachen."

Der Polizist sah ihn lange an. Unlesbar.
"Wir werden das prüfen, Herr Baumgartner."

Leo nickte.
"Tun Sie das. Ich steh zu dem, was ich getan hab."

Als er später nach Hause ging, brannten seine Muskeln. Doch der Schmerz war kein Gegner. Er war ein Zeuge. Ein Beweis.

Leo hatte nicht gewonnen.
Aber er hatte sich befreit.