Der Junge von Nebenan
Kapitel 13: Die Entscheidung
Die Nacht war eine Prüfung.
Leo lag wach, starrte an die Decke, als könne sie ihm Antworten geben.
Jeder Schatten im Zimmer schien sich zu bewegen – Vorboten seiner Vergangenheit, die lautlos zurückkrochen.
Aus dem Flur drang das Knacken eines Heizungsrohrs. Irgendwo schlug eine Tür.
Doch am lautesten war der Satz, der in seinem Kopf kreiste wie ein dunkler Schwarm:
"Oder deine Familie… ich meine, die Leute, die dir wichtig sind…"
Herr Webers ruhige Stimme. Davids klare Augen.
Bilder, die sich nicht vertreiben ließen.
Chikos Drohung hatte sie zu Zielen gemacht. Und ihn zum Schuldigen, wenn er wegsah.
Er wälzte sich, zog die Decke über den Kopf, als könne er sich so dem Druck entziehen.
Doch die Angst blieb – eine kalte Faust in seiner Brust.
Keine Angst vor Schlägen. Sondern vor dem Rückfall.
Dem Verrat an dem, was gewachsen war.
Einmal streckte er die Hand nach dem Handy aus, überlegte, einfach zu schreiben: "Bin dabei."
Nur um Ruhe zu haben. Nur um atmen zu können.
Doch seine Finger erstarrten über dem Display.
Er wusste, wie das lief.
Ein "Bin dabei" war kein Ende. Es war der Anfang vom Ende.
War das der Preis für ein neues Leben?
Dass man die alte Schuld mittrug wie einen bleischweren Schatten?
Er dachte an Davids Stimme beim Training:
"Der Körper folgt der Entscheidung. Nicht umgekehrt."
Und an Herrn Weber, der einmal gesagt hatte:
"Stärke zeigt sich nicht, wenn man gewinnt. Sondern wenn man nicht aufgibt."
Als der erste milchige Streifen Morgenlicht durchs Fenster kroch, stand Leo auf.
Noch zögernd, doch aufrecht.
Es war keine Entscheidung, die jubeln ließ.
Aber eine, die atmen ließ.
Er würde nicht zur Lagerhalle gehen.
Er war nicht mehr der Junge von damals.
Er ging nicht zur Polizei. Noch nicht.
Zuerst musste er dorthin, wo seine neue Haltung geboren worden war: in die Turnhalle.
Die Luft war kalt, die Straßen leer.
David kam gerade, schloss mit metallischem Klicken die Tür auf, als Leo ihn schon erwartete.
Die Sporttasche hing über seiner Schulter wie ein Zeichen.
"So früh?" David zog die Braue hoch.
"Oder hat dich der Ehrgeiz gepackt?"
Leo schüttelte den Kopf. Sein Blick war klar, seine Stimme ungewohnt fest.
"Ich muss dir was erzählen."
Er sprach. Ohne Ausschmückung.
Chiko. Der Job. Die Drohung. Alles.
Die Worte kamen stoßweise, erst zögerlich, dann drängend, wie Wasser, das einen Damm bricht.
Und als sie gesprochen waren, war da –
Stille.
Doch eine andere als zuvor.
Keine, die drückte.
Eine, die Raum ließ.
David hörte zu.
Ohne Mitleid, aber mit Präsenz.
Dann sagte er leise:
"Du hast dich entschieden. Das ist Mut.
Nicht der Mut, der schreit. Sondern der, der bleibt."
Leo nickte.
"Aber Mut reicht nicht", fuhr David fort.
"Du musst vorbereitet sein. Nicht auf einen Kampf mit Fäusten.
Sondern auf das, was in dir geschieht, wenn du Angst bekommst. Wenn du zweifelst.
Darum geht's im Kenshin-Ryu.
Disziplin im Sturm.
Haltung im Fall."
Von diesem Tag an trainierte Leo anders.
Nicht härter. Klarer.
Jeder Tritt hatte Richtung. Jeder Schlag Bedeutung.
Es war, als würde er Schicht für Schicht den alten Leo abschälen.
David sprach viel über Atem, über Anker in der Bewegung, über Kontrolle, wenn alles aus dem Ruder läuft.
Aber die Vergangenheit ließ sich nicht abschütteln.
Zuerst war es nur ein flackerndes Display:
"Wir sehen uns."
Dann: ein Reifen, aufgeschlitzt.
Dann: Davids Auto, zerkratzt – wie eine Unterschrift im Schatten.
Keine großen Gesten. Keine Kamera.
Nur Botschaften.
Chikos Handschrift.
Unauffällig, aber unmissverständlich.
Leo spürte die Angst wieder.
Aber diesmal war sie nicht mehr der Feind.
Sondern ein Lehrer.
Er lernte, sie zu halten, statt ihr zu gehorchen.
Doch dann kam der Abend.
Spätschicht im Heim, das Licht schwach, der Weg leer.
Leo trat aus dem Gebäude – und sah sie.
Chiko. Hassan.
Zwei andere, deren Namen er vergessen hatte, aber deren Gesichter sich eingebrannt hatten wie Brandzeichen.
Sie standen vor dem Eingang, breit, reglos, die Kapuzen tief im Gesicht.
In ihren Händen glänzte Metall – nicht viel.
Nur ein Schimmer.
Aber genug.
Leo blieb stehen.
Sein Herz begann zu pochen. Nicht panisch. Wach.
Hassan trat einen Schritt vor.
"Wir haben dich beobachtet, Bruder.
Ganz schön ruhig geworden, was?"
Seine Stimme war glitschig, wie Öl auf nassem Pflaster.
"Weißt du, was wir gemacht haben, während du 'dein Leben geordnet' hast?
Geld verdient.
Wirklich gutes Geld.
Und jetzt – jetzt bist du wieder dran."
Chiko kam näher. Langsam. Bedächtig.
Nicht wie ein Angreifer. Eher wie ein Richter.
"Du hattest deine Chance, Leo.
Aber du bist nicht besser.
Du bist nur feiger geworden."
Er spuckte auf den Boden.
"Und Feigheit kostet. Alle."
Leo schloss die Augen.
Atmete ein.
Und erinnerte sich.
An den Stand. Den Fokus. Den Atem.
Die Kraft, nicht zuzuschlagen – sondern zu bleiben.
Als er die Augen öffnete, war die Angst noch da.
Aber sie lähmte nicht mehr.
Sie war sein Prüfstein.
Und Leo trat einen Schritt vor.