Der Junge von Nebenan
Kapitel 1: Der Pulsschlag der Stadt
Der Beat der Stadt hämmerte in Leos Ohren – ein Mix aus knatternden Rollern, fernen Polizeisirenen und dem dumpfen Bass aus offenen Fenstern, die Musik und Leben in die grauen Straßen trugen. Zehn Stockwerke unter ihm breitete sich die Leipziger Neustadt aus, ein graues Mosaik aus Plattenbauten, deren Betonwände wie alte Haut brüchig Risse zeigten. Der einstige Stolz der DDR, jetzt ein Ghetto aus verlorenen Träumen und bröckelnden Balkonen.
Durchzogen vom flirrenden Band der S-Bahn, bot die Siedlung eine kühle Anonymität. Hier oben, auf dem Dach des alten Wohnblocks, spürte Leo den kalten Wind, der ihm die schwarzen Haare ins Gesicht wehte, und den unsichtbaren Rhythmus der Gigabytes, die unter ihm durch die Luft schwirrten – Daten, Bilder, Geschichten, die nie ganz sein Leben berührten.
Er tippte routiniert auf sein geknacktes Smartphone. Die Daumen tanzten über das Display. Eine neue Nachricht blinkte auf – ein Emoji mit einer lachenden Teufelsfratze.
"Der Alte hat angebissen. Treffpunkt in zehn Minuten, Rewe-Parkplatz. Alle sind dabei."
Leo grinste. Ein eiskaltes, selbstzufriedenes Grinsen, das er nur hier oben zuließ. Der "Alte" war diesmal ein Typ aus den Kleinanzeigen, der unbedingt eine fast neue Spielekonsole haben wollte – natürlich gestohlen, natürlich viel zu billig. Sie hatten ihn mit gefälschten Bildern und ein paar Social-Engineering-Tricks geködert. Ein Klassiker. Immer wieder effektiv.
Leo war der Kopf bei diesen Aktionen. Nicht der Stärkste, nicht der Lauteste in der Crew – aber der Cleverste. Mit seinen 14 Jahren, schmächtig, aber mit blitzschnellen Fingern und einem Hirn, das immer zwei Schritte voraus war, zog er die digitalen Fäden. Er genoss dieses Gefühl der Kontrolle.
Doch ein Teil von ihm wusste, dass es nur geliehen war – dieser Respekt, dieses Gefühl, jemand zu sein. Aber er verdrängte es – wie immer.
Er sprang vom Mauervorsprung. Die alten Adidas-Sneaker landeten geräuschlos auf dem bröckelnden Beton. Seine ausgebleichte Jeans und der weite Kapuzenpullover ließen ihn jünger wirken, als er war – perfekt für die Tarnung.
Unter ihm das Leben, das er kannte: die Enge der WG, in der er mit seiner alleinerziehenden Mutter und deren ständig wechselnden Bekanntschaften lebte. Der Geruch von Dosenbier und kaltem Rauch, der an den Wänden klebte. Zuhause war er oft nur ein Geist, ein weiteres Problem, das man gerade so stemmen konnte.
Draußen, auf der Straße, war es anders. Da gab es die Gang, seine Jungs, seine Familie. Hier war er nicht unsichtbar – hier war er Leo, der die Fäden zog. Sie gaben ihm Halt, eine Aufgabe, einen Namen. Und vor allem: Geld.
Der Weg zum Rewe-Parkplatz war kurz. Er schlängelte sich durch die Gassen, vorbei an graffiti besprühten Garagen und schmutzigen Spielplätzen, wo rostige Schaukeln knarrten. Der Geruch von feuchtem Asphalt und Müll hing in der Luft.
Seine Kumpels waren schon da:
Chiko – bullige Statur, harte Augen, ein geborener Straßenkämpfer. Schwarzer, verwaschener Trainingsanzug, breite Schultern. Er war der Anführer für alles Körperliche.
Daneben Hassan, groß, schmal, mit kurzer Zündschnur und einem vorlauten Mund – der Erste, wenn es ums Eingemachte ging. Seine Jogginghose mit den drei Streifen war wie ein Markenzeichen.
Und Max – der schüchterne Schatten, flink wie ein Wiesel, dessen Blick oft suchend zwischen Chiko und Leo pendelte, als wüsste er nie genau, wo er hingehörte. In seinem viel zu großen T-Shirt wirkte er wie ein Junge, der vergessen hatte zu wachsen.
Sie standen um einen alten Fiat Punto, der Geruch von Zigarettenrauch lag schwer in der feuchten Abendluft.
Die Gang, das war ihre Art zu überleben. Treffpunkte in den toten Winkeln des Viertels, dort, wo die Kameras der Stadt blind waren und die Laternen flackerten. Ihre Regeln waren einfach: Loyalität über alles, Misstrauen gegenüber allen anderen, und die Überzeugung, dass der schnelle Gewinn die einzige Gerechtigkeit war, die ihnen zustand.
Chiko war der Stratege für die Straße. Leo der Kopf für alles Digitale – Fälschungen, Daten, Tricks, mit denen die "Ehrlichen" alt aussahen. Hassan sorgte für Abschreckung. Und Max? Max war der Schatten, der verschwand, wenn es brenzlig wurde.
"Da ist er ja, unser Digital-Genie", spottete Chiko, aber mit einem anerkennenden Nicken. Ein seltener Respekt, den Leo schätzte.
"Alles klar, Leo? Hat der Honk die Kohle dabei?"
Leo nickte und tippte ein letztes Mal auf sein Handy. "Bestätigt. Bargeld – und er will die Konsole sofort."
Er schob das Handy in die Hosentasche. Sein Herzschlag beschleunigte sich. "Aber Vorsicht – der Typ wirkt nervös. Zu nervös."
Ein kurzer Blickwechsel mit Chiko. Leo war sich nicht sicher, ob es Vorfreude oder Misstrauen war, das in ihm aufstieg.
"Wie immer. Unser Leo erledigt das sauber", sagte Chiko und klopfte ihm auf die Schulter. Leo spürte ein warmes Ziehen in der Magengegend. Das war der Lohn – kein Geld, sondern Anerkennung.
Sie warteten, versteckt hinter einer Reihe von Containern. Leos Herz pochte, ein Trommeln, das sich mit dem Rauschen in seinen Ohren mischte. Keine Angst – eher Aufregung. Das Adrenalin war eine Droge, die ihn lebendig machte, die Leere aus der WG verdrängte.
Das war sein Moment. Sein Spiel.
Ein älterer, unscheinbarer Kombi fuhr auf den Parkplatz. Der Mann am Steuer wirkte tatsächlich übertrieben nervös. Seine Augen zuckten über das Gelände, als suchten sie Auswege. Finger trommelten unruhig auf das Lenkrad. Zu viel Unruhe für einen simplen Deal.
Leo spürte einen flüchtigen Stich im Bauch. Zu nervös. Zu aufgesetzt. Aber jetzt aussteigen? Unmöglich.
Der Wagen hielt unter einer defekten Laterne, die flackernd ein spärliches Licht warf. Das Rauschen der nahen Bundesstraße war das einzige Geräusch.
Leo nickte seinen Jungs zu und trat aus dem Schatten. Die Sporttasche mit der Konsole schwang lässig über seiner Schulter. Sein Lächeln war harmlos, einstudiert – der Junge von nebenan, dem man nichts Böses zutraut.
Der Mann kurbelte das Fenster herunter. Blasses Gesicht. Schweiß auf der Stirn.
"Du bist der Leo, ja?" Seine Stimme war gepresst.
"Der bin ich", antwortete Leo ruhig, fast schon geschäftlich. Er reichte die Tasche durch das Fenster.
"Da ist sie. Funktioniert einwandfrei. Kaum benutzt."
Der Mann nahm die Tasche mit zitternden Fingern entgegen. Seine Augen musterten Leo.
"Sag mal, bist du nicht ein bisschen jung dafür?"
Leo zuckte mit den Schultern. "Mein Bruder verkauft das Zeug. Ich helfe ihm nur. Der liegt mit Grippe flach."
Immer dieselbe Lüge. Immer wirksam. Er hielt die Hand auf.
"Das Geld?"
Der Mann zögerte, dann zog er ein Bündel Scheine aus der Jackentasche. Keine Kontrolle, keine Zählung. Er drückte es Leo hastig in die Hand.
Leo griff zu. Die Scheine fühlten sich kühl und glatt an. Alles lief.
Er wollte gerade zurücktreten – da zerschnitt ein Sirenengeheul die Stille.
Zwei schwarze Polizeiwagen rasten um die Ecke, Blaulicht explodierte in Leos Augen. Eine Stimme aus dem Megafon:
"Polizei! Hände hoch! Sie sind verhaftet!"
Leos Herz setzte aus. Ein einzelner Schlag – zu laut, zu leer. Dann das Klicken von Handschellen, hart und kalt wie Beton.
Die Gang war schon weg. Chiko sprintete in Richtung Bahndamm, Hassan bog in eine dunkle Gasse ab. Max war wie vom Erdboden verschluckt.
Leo blieb zurück. Die Hände auf dem Rücken. Das Neonlicht der Sirenen flackerte auf seinem Gesicht.
Er war allein. Und plötzlich war er nicht mehr der, der die Fäden zog – sondern der, der sich verheddert hatte.