Ich bin blind


Es war einer dieser Tage, an die man oft noch denkt.

An einem vorweihnachtlichen Einkaufstag streifte ich durch die Gassen unserer Stadt. Menschentrauben bildeten sich vor den kleinen schmucken Adventsbuden, aus denen es nach Zimt, Weihrauch, frischen Kerzen und allerlei verführerischen Düften roch. Oft blieb ich stehen und wartete auf eine Kondolenz, eine Aufforderung am Mahl teilzuhaben, falls die Menschen nicht zu beschäftigt waren, mich zu beachten. So konnte ich immer mit einem fürsorglichen Akt rechnen, um meine Sinne zu befrieden. Aber heute schien es zu voll zu sein, keiner wollte mich wirklich wahrnehmen, und meine Freunde, die ich am Geruch erkenne, waren nicht in meiner Nähe.

Frisch auf den Grill geworfene Würstchen verstärkten mein Hungergefühl auf quälende Weise. Ein unangenehmes Gefühl von Leere und Schmerz machte sich immer breiter, bis es kaum noch zum Aushalten war. Meine Sinne völlig eingenommen von diesem verlockenden Gegrillten, kehrte ich zurück zur Straße, bis am Rand meines Weges eine neue, intensive Spur von Düften sich ausbreitete, von denen ich mich einfach nicht mehr losreißen konnte. Normalerweise vermeide ich unter allen Umständen eine Straßenkreuzung zu überqueren, denn dort herrscht ein unübersichtliches Chaos aus Geräuschen und sich ständig verändernden Luftströmungen.

Diesmal jedoch verführte mich ein völlig neuartiger Duft, süß und gleichzeitig herb, zu einer gefährlichen Unaufmerksamkeit. Es war, als würde eine unsichtbare Leine direkt an meiner Nase ziehen, stärker als jeder noch so vertraute Befehl. Bevor ich mich recht versah, hatte ich die beunruhigende Straßenkreuzung hinter mich gelassen und betrat ein unbekanntes Viertel. Die Geräusche hier waren anders, schärfer, hallten bedrohlich von hohen Mauern zurück. Ein tiefer, gutturaler Knurrlaut ließ meine Nackenhaare kurz aufstellen, obwohl ich die genaue Quelle in diesem akustischen Durcheinander nicht sofort orten konnte.

Neue Gerüche, betörend für meine Nase, erzeugten flüchtige Bilder voller Freude und Zufriedenheit, und doch waren Furcht und die nagende Einsamkeit meine ständigen Begleiter in dieser fremden Umgebung. Ich sehe zwar nicht gut, die verschwommenen Umrisse sind oft trügerisch, aber blind bin ich trotzdem nicht! Denn meine anderen Sinne sind auf eine ganz eigene Weise geschärft, nehmen Schwingungen und Veränderungen in der Luft wahr, die anderen verborgen bleiben. Der unbekannte Untergrund unter meinen Pfoten fühlte sich anders an, uneben und plötzlich spürte ich eine Kante. Meine Vorderpfoten fanden keinen Halt, und ich strauchelte gefährlich, nur ein schneller Reflex meiner Hinterbeine verhinderte einen schmerzhaften Sturz. Erschrocken hechelte ich kurz, die fremde Umgebung schien noch unberechenbarer geworden zu sein.

Ich mag die Menschen und suche instinktiv ihre Nähe. Meist sind sie freundlich und bemerken mich irgendwann. Oft geben sie mir von ihrem Essen ab, was eine warme Freude in mir auslöst. Auch vergessen sie selten, mir frisches Wasser in einem bereitwillig hingestellten Napf zu reichen. Mir geht es gut, das weiß ich, und ich sollte zufrieden sein und mich nicht auf solch gefährliche Erkundungstouren begeben.

Plötzlich hörte ich eine leicht panische, aber vertraute Stimme in der Ferne: "Waldi! Waldi, wo bist du denn?" Die Sorge in seinem Klang ließ mein eigenes kleines Herz schneller schlagen. Dann wurde die Stimme lauter, näher: "Waldi komm, ich habe dich lange gesucht, was machst du hier? Du sollst doch nicht abhauen!" Es war mein Herrchen, dessen besorgten Geruch ich nun deutlich wahrnahm, der mich endlich gefunden hatte. Er klang erleichtert, aber auch ein wenig verärgert: "Du bist zwar blind, mein Junge, aber nicht lahm, also komm jetzt!"

Ich muss jetzt, aber ich werde euch zu gegebener Zeit weiter über meine Geschichten informieren, wenn die Aufregung dieses kleinen Abenteuers sich gelegt hat.

Schaut mal wieder vorbei, ich freue mich jedes Mal, wenn ich eure wohlwollende Aufmerksamkeit spüre.

© 12.11.2017 Gerd Groß (fertig gestellt am 25.02.2020)


Die Geschichte von Schriftsteller Gerd Groß "Ich bin blind..." aus dem Jahr 2017 (fertiggestellt 2020) ist eine einfühlsame Erzählung aus der Perspektive eines blinden Hundes namens Waldi, die auf metaphorischer Ebene auch über die menschliche Erfahrung von Ausgrenzung, Sehnsucht und dem Bedürfnis nach Zugehörigkeit reflektiert.

Zentrale Aspekte der Interpretation:

  • Die Welt der Sinne: Die Geschichte taucht tief in die sensorische Welt eines blinden Hundes ein. Waldi erlebt seine Umgebung primär durch Gerüche, Geräusche und taktile Eindrücke. Der Leser wird so auf eine andere Art der Wahrnehmung aufmerksam gemacht und erlebt die vorweihnachtliche Stadt aus einer ungewohnten Perspektive. Die Düfte des Weihnachtsmarktes, der Geruch des Herrchens und der unbekannte Duft im fremden Viertel spielen eine zentrale Rolle.

  • Das Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Anerkennung: Waldis Verhalten auf dem Weihnachtsmarkt, das Warten auf "Kondolenz" und "Aufforderung am Mahl teilzuhaben", verdeutlicht sein instinktives Bedürfnis nach sozialer Interaktion und Anerkennung. Die Enttäuschung, nicht beachtet zu werden, unterstreicht die Einsamkeit, die er trotz der Menschenmassen empfindet.

  • Die Verlockung des Unbekannten: Der "völlig neuartige Duft" symbolisiert die Anziehungskraft des Unbekannten und die Gefahr, die damit einhergehen kann. Er überwindet Waldis Vorsicht und führt ihn in eine potenziell bedrohliche Situation. Dies kann als Metapher für menschliche Neugier oder das Verfolgen von Verlockungen interpretiert werden, die uns von unserem sicheren Weg abbringen können.

  • Die Ambivalenz der neuen Umgebung: Das unbekannte Viertel wird als bedrohlich und beängstigend beschrieben ("scharf", "hallten bedrohlich", "tiefer, gutturaler Knurrlaut"). Gleichzeitig erzeugen neue Gerüche "flüchtige Bilder voller Freude und Zufriedenheit", was die Ambivalenz des Neuen und Unerwarteten widerspiegelt – es kann sowohl Gefahr als auch Potenzial für positive Erfahrungen bergen.

  • Die Stärke anderer Sinne: Waldis Aussage "Ich sehe zwar nicht gut, die verschwommenen Umrisse sind oft trügerisch, aber blind bin ich trotzdem nicht!" betont die Kompensation seiner Sehbehinderung durch die Schärfung anderer Sinne. Dies kann als eine allgemeine menschliche Fähigkeit interpretiert werden, Stärken in anderen Bereichen zu entwickeln, wenn eine Fähigkeit eingeschränkt ist.

  • Die instinktive Suche nach Nähe: Waldis Zuneigung zu Menschen und sein instinktives Bedürfnis nach ihrer Nähe ("Ich mag die Menschen und suche instinktiv ihre Nähe") ist ein grundlegendes Bedürfnis, das auch auf menschliche Beziehungen übertragen werden kann. Die Freude über Zuwendung und Nahrung unterstreicht die Bedeutung von Freundlichkeit und Fürsorge.

  • Die Rückkehr zur Geborgenheit: Die panische Stimme des Herrchens und Waldis erleichterte Reaktion zeigen die Bedeutung von Vertrautheit und Geborgenheit. Trotz des Reizes des Neuen ist die Sicherheit des Bekannten und die Fürsorge der Bezugsperson letztendlich das, wonach er sich sehnt.

  • Die Akzeptanz der Einschränkung: Die Worte des Herrchens ("Du bist zwar blind, mein Junge, aber nicht lahm, also komm jetzt!") sind einerseits liebevoll-tadelnd, andererseits akzeptieren sie Waldis Blindheit als einen Teil seiner Realität, ohne ihn deswegen zu bemitleiden.

  • Die Erzählperspektive und die Einladung zum Wiederkommen: Die persönliche Erzählweise aus Waldies Sicht und die direkte Ansprache des Lesers am Ende erzeugen eine Nähe und laden zur Empathie ein. Das Versprechen weiterer Geschichten deutet an, dass es noch mehr Perspektiven und Erfahrungen aus Waldies Welt zu entdecken gibt.

Metaphorische Ebene:

Auf einer metaphorischen Ebene kann Waldis Blindheit für verschiedene Formen von Einschränkungen oder Benachteiligungen stehen, die Menschen erfahren können. Seine Suche nach Anerkennung und seine Erfahrungen in der fremden Umgebung spiegeln das menschliche Bedürfnis nach sozialer Integration und die Herausforderungen wider, sich in einer unbekannten oder ablehnenden Welt zurechtzufinden. Die Verlockung des Unbekannten und die Rückkehr zur Geborgenheit können als universelle menschliche Erfahrungen interpretiert werden.

Insgesamt ist "Ich bin blind..." eine warmherzige und nachdenkliche Geschichte, die durch die ungewöhnliche Perspektive des blinden Hundes Waldi auf sensible Weise Themen wie Wahrnehmung, Einsamkeit, Neugier, Zugehörigkeit und die Bedeutung von Vertrautheit berührt. Sie lädt den Leser ein, die Welt aus einer anderen Sichtweise zu betrachten und die grundlegenden Bedürfnisse nach Akzeptanz und Liebe neu zu überdenken.