Hoffnung
Ich erinnere mich noch ganz genau.
Es war einer von allen trübsten Tagen,
Der Himmel in einem tiefen Grau,
Als ich dort, auf meinem schwarzen Boden,
Ein augenblendendes Grün erblickte.
Bisher hatte ich nur Unkraut wachsen sehen,
Welches den Boden für eine kurze Zeit
Eine hässlich grüne Tönung verpasste.
Aber es hielt sich nie lange, nahm abgestorben
Schnell die Farbe meines Bodens an.
Ich schaute mir die Sache genauer an.
Es war der kleine Sprössling eines Baumes,
Der sich durch die verdorrte Erde streckte.
Mein Herz schrie auf, als ich ihn leichtfertig,
Mit kurzen, schmerzlosen Griff aus der Erde riss.
Es war nicht nur die Farbe – die Baumwurzeln
Hätten meine kostbare Erde aufgerissen.
In stillen Stunden wie heute höre ich mein Herz,
Das einstige Schreien ist nur noch ein Wimmern.
Der Boden ist bis heute schwarz geblieben.
© Gerd Groß 24.07.2002
Ein sehr bewegendes und melancholisches Gedicht von Schriftsteller Gerd Groß. Es erzählt auf eine kraftvolle und symbolische Weise von einer verpassten Chance und dem Bedauern einer unüberlegten Handlung.
Interpretation:
Das Gedicht schildert eine Szene, die auf einer tieferen, metaphorischen Ebene gelesen werden kann.
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Die Tristesse des Anfangs: Der "trübste Tag" und der "tiefe Grau" des Himmels setzen eine düstere und hoffnungslose Atmosphäre. Der "schwarze Boden" verstärkt dieses Bild der Unfruchtbarkeit und des Mangels an Leben.
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Das unerwartete Grün: Das "augenblendende Grün" stellt einen plötzlichen Hoffnungsschimmer in dieser Tristesse dar. Es ist etwas Lebendiges, Frisches und Unerwartetes in einer anscheinend leblosen Umgebung.
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Die Enttäuschung der Vergangenheit: Die Erinnerung an das Unkraut, das nur kurzzeitig eine "hässlich grüne Tönung" brachte und schnell wieder verschwand, unterstreicht die bisherigen negativen Erfahrungen mit Wachstum und Leben auf diesem Boden. Es deutet auf eine Skepsis gegenüber neuem Leben hin.
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Die vorschnelle Reaktion: Die Entdeckung des kleinen Baum-Sprösslings löst zunächst einen Aufschrei des Herzens aus, der jedoch abrupt in eine zerstörerische Handlung umschlägt. Das "leichtfertig" und mit "kurzen, schmerzlosen Griff" Ausreißen des Sprösslings zeugt von einer unüberlegten und vielleicht sogar ängstlichen Reaktion.
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Die Begründung der Zerstörung: Die rationale Begründung für die Tat – die Baumwurzeln hätten die "kostbare Erde aufgerissen" – mag im Moment stichhaltig erscheinen, wird aber im Nachhinein vom emotionalen Schmerz überwogen. Die Betonung auf "meine kostbare Erde" könnte auf Besitzdenken oder Angst vor Veränderung hindeuten.
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Die bleibende Konsequenz: Die "stillen Stunden" und das "Wimmern" des Herzens zeigen das anhaltende Bedauern über die getane Tat. Das einstige Schreien der ersten Entdeckung ist zu einem leisen Schmerz geworden. Die abschließende Feststellung, dass der Boden "bis heute schwarz geblieben" ist, unterstreicht die endgültige Natur der verpassten Chance und die anhaltende Leere.
Metaphorische Deutung:
Das Gedicht kann als Metapher für verschiedene Situationen im Leben interpretiert werden:
- Eine verpasste Chance in einer Beziehung: Der Sprössling könnte eine neue Liebe oder eine wertvolle Verbindung symbolisieren, die aus Angst vor möglichen Schwierigkeiten oder Veränderungen vorschnell beendet wurde.
- Das Unterdrücken von Kreativität oder Potenzial: Das Grün könnte für eine neue Idee oder einen inneren Drang stehen, der aus Angst vor Störung oder Misserfolg unterdrückt wurde.
- Die Ablehnung von Veränderung: Der schwarze Boden steht für den Status quo, und der Sprössling für eine notwendige Veränderung, die aus Furcht vor den Konsequenzen abgelehnt wurde.
- Das Bedauern einer impulsiven Handlung: Die Geschichte erzählt von einer unüberlegten Reaktion, die langfristige negative Folgen hat.
Bewertung:
Das Gedicht ist von einer tiefen emotionalen Intensität geprägt. Die einfache, aber präzise Sprache erzeugt eine starke Wirkung. Die Gegenüberstellung des tristen Anfangs mit dem Hoffnungsschimmer des Grüns und der darauffolgenden Zerstörung erzeugt eine tragische Spannung.
Die innere Zerrissenheit des lyrischen Ichs, zwischen der anfänglichen Freude und der rationalen Ablehnung, wird sehr eindrücklich dargestellt. Das anhaltende Bedauern und die bleibende Leere am Ende des Gedichts machen die Tragweite der unüberlegten Handlung deutlich.
Die Symbolik des schwarzen Bodens und des grünen Sprösslings ist kraftvoll und vielschichtig, was dem Gedicht eine universelle Bedeutung verleiht. Es regt zum Nachdenken über unsere Entscheidungen, unsere Ängste und die möglichen Konsequenzen verpasster Chancen an.
© Gemini