Flash Back


Hab Hundert mal daran gedacht, versucht mir vorzustellen
Bin Hundert mal gescheitert und Hundert mal zerschellt
Mit Hundert Worten nicht getroffen, was ich sagen will
Bin Hundert Leben weiter, doch auch das ändert nicht viel.


Über jeder meiner Träume habe ich auch gelacht
Hab endlos schlafen wollen, bin trotzdem aufgewacht
Im Gleichklang mit sich selbst, bin ich auch nicht zu schnell
Konnte Liebe und Hass erfahren, bin nicht daran zerschellt

Doch dann

Der Blitz in meinem Kopfe, ergreift was ich jetzt bin
Kann nicht mehr klar denken, macht alles keinen Sinn
Die Nächte nicht mehr heiter, entstellt mir jeden Traum
Apathisch sitz ich da, Gedanken brauchen ihren Raum


Zu nichts mehr in der Lage, geprägt von Angst und Schweiß
Versuche anzukämpfen, doch alles hat wohl seinen Preis
Böse Erinnerungen erwachen, greifen nach Raum und Zeit
Bin nicht in der Gegenwart, versetzt in die Vergangenheit


Mein zweites Ich es stürmt hervor, lässt keinen Platz mehr zu
Bin abgedriftet in eine andere Welt, hab deswegen keine Ruh
Die Schritte nicht koordiniert, lauf auf und ab in meinem Zimmer
Angst und Wut sie sind nun da, sie machen es noch schlimmer


Fragen über Fragen, gestellt nach dem Warum
Kann keine Antwort geben, bin doch auch nicht dumm
Wieso? Weshalb? Sie kommen wieder
Es steckt in mir, nicht in meinen Glieder


Es ist vorbei der Tag erwacht, kann leben wie zuvor
Ruhe und Gelassenheit, sie kommen wieder vor
Die Furcht gewichen, kein Schweiß mehr da
Ein neuer Mensch ich bin und nichts mehr wie es war.


© 20.11.2002 Gerd Groß


Ein sehr intensives und eindringliches Gedicht von Schriftsteller Gerd Groß. Es schildert auf beklemmende Weise den plötzlichen Einbruch einer überwältigenden psychischen Belastung und den anschließenden, erleichternden Übergang zurück in einen Zustand der Normalität.

Interpretation:

Das Gedicht lässt sich in zwei deutlich voneinander abgegrenzte Teile gliedern: eine Vorgeschichte des inneren Kampfes und dann der jähe Ausbruch eines "Flashbacks".

Teil 1: Die Vorgeschichte des inneren Kampfes (Strophen 1-4)

Dieser Teil zeichnet das Bild eines Menschen, der sich mit inneren Schwierigkeiten und dem Ringen um Ausdruck auseinandersetzt.

  • Das Scheitern des Ausdrucks: Die wiederholte Zahl "Hundert" in Verbindung mit dem Scheitern des Vorstellens, Zerschellens und Nicht-Treffens der Worte deutet auf einen tief sitzenden Frust und die Schwierigkeit, innere Zustände nach außen zu tragen.
  • Das ambivalente Verhältnis zu Träumen: Das Lachen über Träume und das Aufwachen trotz des Wunsches nach endlosem Schlaf könnten auf eine gewisse Distanzierung von den eigenen Sehnsüchten oder eine resignierte Akzeptanz der Realität hindeuten.
  • Die Erfahrung von Extremen: Die Aussage, Liebe und Hass erfahren und nicht daran zerschellt zu sein, zeugt von einer inneren Stärke und Resilienz, die jedoch im Folgenden auf die Probe gestellt wird.

Teil 2: Der "Flashback" (Strophen 5-10)

Dieser Teil beschreibt den abrupten und überwältigenden Einbruch eines psychischen Ausnahmezustands.

  • Der plötzliche Überfall: Der "Blitz in meinem Kopfe" markiert einen Wendepunkt. Er ergreift das gegenwärtige Sein und führt zu einem Zustand der Verwirrung und Sinnlosigkeit.
  • Die Entstellung der inneren Welt: Die ehemals vielleicht heiteren Nächte werden entstellt, Träume werden negativ beeinflusst. Apathie und ein überwältigendes Bedürfnis nach innerem Raum kennzeichnen diesen Zustand.
  • Die körperliche und geistige Lähmung: Die Unfähigkeit zu handeln, gepaart mit Angst und Schweiß, verdeutlicht die körperliche Manifestation der psychischen Belastung. Der Kampf dagegen scheint vergeblich.
  • Das Wiedererwachen der Vergangenheit: "Böse Erinnerungen" dringen in die Gegenwart ein und beherrschen Raum und Zeit. Das lyrische Ich ist nicht mehr im Hier und Jetzt, sondern gefangen in der Vergangenheit.
  • Die Spaltung des Selbst: Das "zweite Ich" stürmt hervor und verdrängt das gegenwärtige Selbst. Der Verlust der inneren Ruhe und die Desorientierung werden beschrieben.
  • Die Macht der Emotionen: Angst und Wut verstärken den Zustand der inneren Zerrissenheit und Unruhe.
  • Die quälenden Fragen: Das wiederholte Fragen nach dem "Warum" ohne Antwort zu finden, unterstreicht die Hilflosigkeit und die irrationale Natur dieses Zustands. Die Erkenntnis, dass die Ursache im Inneren liegt ("Es steckt in mir, nicht in meinen Glieder"), verstärkt das Gefühl der Ausweglosigkeit.

Der Übergang zur Normalität (Strophen 11-12)

Dieser kurze Schlussteil beschreibt das allmähliche Abklingen des Zustands.

  • Die Rückkehr des Tages: Das Erwachen des neuen Tages bringt eine Wendung. Das normale Leben scheint wieder möglich.
  • Die Wiederherstellung des inneren Friedens: Ruhe und Gelassenheit kehren zurück. Die Furcht verschwindet, die körperlichen Symptome lassen nach.
  • Die Veränderung des Selbst: Die abschließende Feststellung "Ein neuer Mensch ich bin und nichts mehr wie es war" deutet darauf hin, dass eine solche Erfahrung tiefe Spuren hinterlässt und die Selbstwahrnehmung verändern kann.

Bewertung:

Das Gedicht ist von einer rohen Ehrlichkeit und einer beklemmenden Intensität geprägt. Es vermittelt auf eindringliche Weise die Erfahrung eines psychischen Ausnahmezustands, der plötzlich und überwältigend über einen Menschen hereinbrechen kann.

Die klaren und direkten Worte, die Wiederholungen und die abrupten Übergänge spiegeln die Zerrissenheit und die Unkontrollierbarkeit des Erlebten wider. Die Metapher des "Blitzes im Kopf" ist besonders stark und prägnant.

Das Gedicht thematisiert auf sensible Weise die Verletzlichkeit der menschlichen Psyche und die Macht unbewältigter Erfahrungen. Der abschließende Übergang zur Normalität bietet einen Hoffnungsschimmer, betont aber gleichzeitig die bleibende Auswirkung solcher Erlebnisse.

Es ist ein mutiges und wichtiges Gedicht, das Einblicke in eine oft unsichtbare innere Realität gewährt.

© Gemini