Expressionistischer Realismus
Ich bin vergangen in allem, in dem ich war.
das was ich bin, ist Sein, es ist geschehen
das was ich war, war Schein, es war gewesen
und was ich sein werde, wird nie geschehen.
Ich werde sein in allen, in dem ich bin.
Illusion im Werdegang ist Zukunft,
Kindesalter herbeigesehnt ist Gestern.
Realismus widerfahren ist Heute.
Was die Zukunft bringt, wird angedacht.
Was vergangen ist, wird immer sein
und Gegenwart das ist Erkennen.
Zukunft ist Vergangenheit, in dem sie ist.
Vergangenheit ist Wunsch und Zukunft ein Traum.
Gegenwart sie bleibt – aber sie ist vorbei.
Hoffen auf Morgen, kein Leben im Gestern,
kein Warten auf Heute - bereits vollzogen.
Zukunft wird nicht sein, Vergangenheit war stets
Gegenwart ist da – und wird immer gelten.
so unabänderlich ist es für alle Zeit.
© 09.12.2003 Gerd Groß (05.02.2025 neu bearbeit)
Dieses tiefgründige und die Zeitlichkeit des Seins reflektierende Gedicht von Schriftsteller Gerd Groß, in der neu bearbeiteten Fassung vom 5. Februar 2025, trägt den Titel "Expressionistischer Realismus". Dieser Titel selbst deutet auf eine subjektive, gefühlsbetonte Auseinandersetzung mit der Realität und der Vergänglichkeit hin.
Interpretation:
Das Gedicht entfaltet in fünf Strophen eine komplexe Betrachtung der Zeitformen und ihrer Beziehung zum Sein und zur Wahrnehmung. Es vermischt Aussagen über die objektive Realität der Zeit mit subjektiven Empfindungen und Erkenntnissen.
- Vergangenheit, Gegenwart und die unmögliche Zukunft: Die erste Strophe beginnt mit einer Feststellung über die Vergangenheit ("Ich bin vergangen in allem, in dem ich war") und die abgeschlossene Natur des gegenwärtigen Seins ("das was ich bin, ist Sein, es ist geschehen"). Die Vergangenheit wird als "Schein" und als "gewesen" charakterisiert. Die überraschende und vielleicht pessimistische Aussage ist, dass das, was sein wird, "nie geschehen" wird. Dies könnte auf die ständige Transformation der Zeit und die Unfassbarkeit der Zukunft hindeuten. Die isolierte Zeile "Ich werde sein in allen, in dem ich bin" scheint eine gegenwärtige Potenzialität des Seins zu betonen.
- Subjektive Wahrnehmung der Zeit: Die zweite Strophe ordnet die Zeit subjektiven Erfahrungen zu: "Illusion im Werdegang ist Zukunft", "Kindesalter herbeigesehnt ist Gestern" und "Realismus widerfahren ist Heute". Hier wird die Zeit nicht nur als chronologische Abfolge, sondern auch als Produkt unserer Wahrnehmung und emotionalen Bewertung dargestellt.
- Die Natur der Zeit aus einer realistischen Perspektive: Die dritte Strophe versucht eine objektivere Beschreibung: Die Zukunft ist etwas, das "angedacht" wird, die Vergangenheit bleibt "immer sein" (in der Erinnerung oder ihren Auswirkungen), und die Gegenwart ist der Moment des "Erkennen[s]".
- Die Paradoxien der Zeit: Die vierte Strophe enthält paradoxe Aussagen: "Zukunft ist Vergangenheit, in dem sie ist" (vielleicht im Sinne von Vorhersagen basierend auf Vergangenem?), "Vergangenheit ist Wunsch und Zukunft ein Traum" (die subjektive Färbung der Zeit), und "Gegenwart sie bleibt – aber sie ist vorbei" (die Flüchtigkeit des Augenblicks).
- Die Unabänderlichkeit der Gegenwart: Die letzte Strophe betont die Bedeutung der Gegenwart: Das Hoffen auf Morgen und das Leben in der Vergangenheit werden relativiert. Die Gegenwart ist bereits "vollzogen" und wird immer gelten ("so unabänderlich ist es für alle Zeit"), während die Zukunft als unsicher und die Vergangenheit als abgeschlossen dargestellt wird.
Bewertung:
"Expressionistischer Realismus" ist ein tiefgründiges und herausforderndes Gedicht, das auf subjektive und zugleich reflektierende Weise die Natur der Zeit und ihre Beziehung zum menschlichen Sein erkundet.
- Die Spannung zwischen Subjektivität und Objektivität: Der Titel deutet bereits auf die Verbindung von emotionaler Ausdruckskraft und einer Auseinandersetzung mit der Realität hin. Das Gedicht oszilliert zwischen subjektiven Wahrnehmungen der Zeit und allgemeineren Aussagen über ihre Natur.
- Die Betonung der Gegenwart: Trotz der Reflexionen über Vergangenheit und Zukunft scheint das Gedicht letztendlich die Bedeutung und Unmittelbarkeit der Gegenwart zu betonen.
- Die Flüchtigkeit und Unfassbarkeit der Zeit: Das Gedicht thematisiert die ständige Bewegung der Zeit und die Schwierigkeit, sie festzuhalten oder vorherzusagen.
- Paradoxe und tiefgründige Aussagen: Die paradoxen Formulierungen regen zum Nachdenken über die scheinbar festen Kategorien der Zeit an.
- Die Rolle der Wahrnehmung: Das Gedicht unterstreicht, wie unsere subjektiven Erfahrungen und emotionalen Zustände unsere Wahrnehmung der Zeit prägen.
Fazit:
"Expressionistischer Realismus" ist ein philosophisch anspruchsvolles Gedicht, das die Komplexität des Zeitbegriffs aus einer subjektiven und zugleich reflektierenden Perspektive beleuchtet. Es fordert uns auf, über die lineare Vorstellung von Zeit hinauszudenken und die Bedeutung der Gegenwart, die Flüchtigkeit des Augenblicks und die prägende Kraft unserer Wahrnehmung zu erkennen. Die scheinbar widersprüchlichen Aussagen regen zur tieferen Auseinandersetzung mit unserer eigenen Beziehung zur Zeit an.
© Gemini