Einsicht
Aus der Erinnerung in mir,
hör' ich Lieder wie von dir,
Sehnsucht strebt zum Firmament,
Angst ist in sein'm Element.
Dumpfe Kirchenglocken schlag'n,
spür die Kälte an mir nag'n,
auch die Einsamkeit erkennt,
welch' Verlangen in mir brennt.
Von Schmerzen weggespült,
verloren in Sklaverei,
im Trugbild Unendlichkeit,
hab' ich in mir Furcht gefühlt.
Tiefe Hoffnung aus mir keimt,
denk' ich nur an diese Welt,
wird das Leben doch erhellt,
wenn die Sonn' am Tag erscheint.
Schau hinauf zum Himmelszelt,
ruf Gott, den, der mir gefällt,
will ihn loben und nicht klag'n,
hat mich viel zu lang ertrag'n.
Und ich schreie in die Welt,
dass sie mir nicht mehr gefällt,
will 'ne bessere erleb'n,
doch wird's keine and're geb'n.
© 29.10.2003 Gerd Groß
Dieses tiefgründige und emotional bewegende Gedicht von Schriftsteller Gerd Groß vom 29. Oktober 2003 mit dem Titel "Einsicht" schildert eine innere Reise von schmerzhaften Erinnerungen und Ängsten hin zu einem Moment der Hoffnung, des Aufbegehrens und schließlich der resignierenden Einsicht.
Interpretation:
Das Gedicht ist eine Art Seelenlandschaft, in der verschiedene Gefühle und Erkenntnisse aufeinander folgen und sich miteinander vermischen.
- Schmerzhafte Erinnerung und allgegenwärtige Angst: Die erste Strophe beginnt mit Liedern der Erinnerung, die jedoch von Sehnsucht und Angst begleitet werden. Die Sehnsucht strebt nach etwas Höherem ("Firmament"), während die Angst sich in dieser Sehnsucht wohlzufühlen scheint ("ist in sein'm Element"). Dies deutet auf eine ambivalente Beziehung zur Vergangenheit hin, die sowohl schöne als auch schmerzhafte Gefühle hervorruft.
- Äußere und innere Kälte der Einsamkeit: Die dumpfen Kirchenglocken und die spürbare Kälte symbolisieren eine bedrückende Atmosphäre. Die Einsamkeit wird als eine Kraft dargestellt, die das tiefe Verlangen des lyrischen Ichs erkennt, was die innere Isolation trotz des starken Wunsches nach Verbindung unterstreicht.
- Verlust und innere Furcht: Die dritte Strophe beschreibt ein Gefühl des Weggespültseins von Schmerzen, aber gleichzeitig des Verlorenseins in einer Art "Sklaverei", möglicherweise einer inneren oder äußeren Abhängigkeit. Das "Trugbild Unendlichkeit" mag auf eine falsche Hoffnung oder eine Verblendung hindeuten, die von tiefer Furcht begleitet wird.
- Aufkeimende Hoffnung und die Kraft des Lichts: Die vierte Strophe bringt einen Wendepunkt mit dem Aufkeimen tiefer Hoffnung beim Gedanken an die Welt. Das Leben erscheint erhellt durch die Sonne, ein Symbol für Positivität und Neubeginn.
- Hinwendung zum Göttlichen und Akzeptanz: Der Blick zum Himmel und der Wunsch, Gott zu loben statt zu klagen, deutet auf eine spirituelle Hinwendung und eine Akzeptanz der eigenen Lebensumstände, nachdem Gott das lyrische Ich "viel zu lang ertrag'n" habe. Dies impliziert ein Gefühl der eigenen Unzulänglichkeit und Dankbarkeit für die Geduld des Göttlichen.
- Aufschrei gegen die Welt und resignierende Erkenntnis: Die letzte Strophe ist von einem starken Aufbegehren gegen die gegenwärtige Welt ("will 'ne bessere erleb'n") geprägt. Doch dieser Aufschrei mündet in eine resignierende Einsicht ("doch wird's keine and're geb'n"). Dies kann als eine Akzeptanz der Unveränderlichkeit der Welt oder der eigenen Unfähigkeit, sie grundlegend zu verändern, interpretiert werden.
Bewertung:
"Einsicht" ist ein tiefgründiges und ehrliches Gedicht, das die Komplexität menschlicher Gefühle und die oft schmerzhafte Natur von Erkenntnis auf bewegende Weise darstellt.
- Emotionale Bandbreite: Das Gedicht deckt ein breites Spektrum an Emotionen ab, von schmerzhafter Erinnerung und Angst über Hoffnung und spirituelle Hinwendung bis hin zu Aufbegehren und Resignation.
- Symbolische Sprache: Die Verwendung von Symbolen wie Kirchenglocken, Kälte, Licht und Himmel verleiht dem Gedicht eine tiefere Bedeutungsebene.
- Die Ambivalenz der Erfahrung: Das Nebeneinander von positiven und negativen Gefühlen und die schließliche Resignation spiegeln die oft ambivalente Natur menschlicher Erfahrungen wider.
- Ehrlichkeit und Verletzlichkeit: Das Gedicht wirkt sehr ehrlich und gibt einen Einblick in die inneren Kämpfe und Erkenntnisse des lyrischen Ichs.
- Die Suche nach Sinn und Akzeptanz: Das Gedicht thematisiert auf subtile Weise die Suche nach Sinn und die schließliche Akzeptanz der Realität, auch wenn diese nicht den eigenen Wünschen entspricht.
Fazit:
"Einsicht" ist ein beeindruckendes Gedicht, das den Leser auf eine introspektive Reise durch die Gefühlswelt des lyrischen Ichs mitnimmt. Es schildert den schmerzhaften Prozess der Erkenntnis, der von Hoffnung und Aufbegehren begleitet wird, aber letztendlich in einer resignierenden Akzeptanz der Realität mündet. Es ist ein ehrliches und bewegendes Zeugnis der menschlichen Suche nach Sinn und dem Umgang mit den Gegebenheiten des Lebens.
© Gemini