Einfach mal zum Nachdenken


Mein bester Freund öffnete die Kommodenschublade seiner Ehefrau und holte ein in Seidenpapier verpacktes Päckchen heraus. Es ist nicht irgendein Päckchen, sondern ein Päckchen mit Unterwäsche darin.

 
Er warf das Papier weg und betrachtete die Seide und die Spitze. "Dies kaufte ich als wir zum ersten Mal in New York waren. Das ist jetzt 8 oder 9 Jahre her. Sie trug es nie. Sie wollte es für eine besondere Gelegenheit aufbewahren. Und jetzt, glaube ich, ist der richtige Moment gekommen!". Er näherte sich dem Bett und legte die Unterwäsche zu den anderen Sachen, die von dem Bestattungsinstitut mitgenommen wurden.

 
Seine Frau war gestorben.

 
Als er sich zu mir umdrehte, sagte er: "Bewahre nichts für einen besonderen Anlass auf! Jeder Tag den du lebst, ist ein besonderer Anlass. Ich denke immer noch an diese Worte.

 
Sie haben mein Leben verändert.

 
Heute lese ich viel mehr als früher und putze weniger. Ich setze mich auf meine Terrasse und genieße die Landschaft, ohne auf das Unkraut im Garten zu achten. Ich verbringe mehr Zeit mit meiner Familie und meinen Freunden und weniger Zeit bei der Arbeit. Ich habe begriffen, dass das Leben eine Sammlung von Erfahrungen ist, die es zu schätzen gilt. Von jetzt an bewahre ich nichts mehr auf. Ich benutze täglich meine Kristallgläser. Wenn mir danach ist, trage ich meine neue Jacke, um in den Supermarkt zu gehen. Auch meine Lieblingsdüfte trage ich dann auf, wenn ich Lust darauf habe, anstatt sie für Festtage aufzuheben.

 
Sätze, wie z B. "Eines Tages ..." oder "An einem dieser Tage..." sind dabei, aus meinem Vokabular verbannt zu werden.

 
Wenn es sich lohnt, will ich die Dinge hier und jetzt sehen, hören und machen.

 
Ich bin mir nicht ganz sicher, was die Frau meines Freundes gemacht hätte, wenn sie gewußt hätte, dass sie morgen nicht mehr sein wird (ein "Morgen", das wir oft zu leicht nehmen). Ich glaube, dass sie noch ihre Familie und engen Freunde angerufen hätte. Vielleicht hätte sie auch ein paar alte Freunde angerufen, um sich zu versöhnen oder sich für alte Streitigkeiten zu entschuldigen. Der Gedanke, daß sie vielleicht noch chinesisch essen gegangen wäre (ihre Lieblingsküche), gefällt mir sehr.

 
Es sind diese kleinen unerledigten Dinge, die mich sehr stören würden, wenn ich wüsste, dass meine Tage gezählt sind. Genervt wäre ich auch, gewisse Freunde nicht mehr gesehen zu haben, mit denen ich mich "an einem dieser Tage" in Verbindung hätte setzen sollen. Genervt, nicht die Briefe geschrieben zu haben, die ich "an einem dieser Tage" schreiben wollte. Genervt, meinen Nächsten nicht oft genug gesagt zu haben, wie sehr ich sie liebe.

 
Jetzt verpasse, verschiebe und bewahre ich nichts mehr, was uns Freude und Lächeln in unser Leben bringen könnte. Ich sage mir, dass jeder Tag etwas Besonderes ist.

 
Jeder Tag, jede Stunde sowie jede Minute ist etwas Besonderes.


©11.12.1998 Gerd Groß



Dieser kurze Prosatext von Schriftsteller Gerd Groß ist eine eindringliche und bewegende Reflexion über die Vergänglichkeit des Lebens und die Bedeutung des Augenblicks. Er appelliert auf einfache, aber wirkungsvolle Weise an uns, das Leben im Hier und Jetzt zu leben und die kleinen Freuden des Alltags wertzuschätzen.

Hier sind die zentralen Aspekte der Interpretation:

1. Der Auslöser: Der Tod der Ehefrau des Freundes:

  • Der Tod der Ehefrau ist der Katalysator für die tiefgreifende Erkenntnis des Freundes und in weiterer Folge des Erzählers.
  • Die ungetragene Unterwäsche, aufbewahrt für einen "besonderen Anlass", symbolisiert verpasste Gelegenheiten und die Ironie des Aufschiebens. Der "besondere Anlass" ist nun ein trauriger und endgültiger.

2. Die zentrale Erkenntnis des Freundes:

  • Die Worte des Freundes "Bewahre nichts für einen besonderen Anlass auf! Jeder Tag den du lebst, ist ein besonderer Anlass" sind die Kernaussage des Textes.
  • Diese Erkenntnis bricht mit der menschlichen Tendenz, Dinge und Erlebnisse für eine ungewisse Zukunft aufzusparen.

3. Die Übertragung der Erkenntnis auf den Erzähler:

  • Der Erzähler nimmt die Worte des Freundes tief in sich auf ("Ich denke immer noch an diese Worte. Sie haben mein Leben verändert.").
  • Er beschreibt konkret, wie sich sein Verhalten und seine Prioritäten geändert haben. Die Beispiele sind alltäglich und nachvollziehbar: mehr lesen, weniger putzen, die Natur genießen, Zeit mit Lieben verbringen, "besondere" Dinge im Alltag nutzen.

4. Die Kritik am Aufschieben:

  • Der Text kritisiert subtil die Verwendung von Phrasen wie "Eines Tages..." oder "An einem dieser Tage...". Diese Ausdrücke stehen für das Vertagen von wichtigen Dingen und Gefühlen auf einen unbestimmten Zeitpunkt.
  • Der Erzähler hat diese Phrasen aus seinem Vokabular verbannt und plädiert dafür, Dinge zu tun, wenn es sich lohnt – im gegenwärtigen Moment.

5. Die Reflexion über das Unausgesprochene und Unerledigte:

  • Der Erzähler spekuliert darüber, was die verstorbene Frau getan hätte, wenn sie ihr baldiges Ende gekannt hätte. Diese Überlegung lenkt den Fokus auf die Bedeutung von Beziehungen, Versöhnung und dem Ausleben von Vorlieben.
  • Die "kleinen unerledigten Dinge" und die versäumten Gelegenheiten, Zuneigung auszudrücken, werden als potenziell schmerzhaft im Angesicht des Todes dargestellt.

6. Der Appell zur Wertschätzung des Augenblicks:

  • Der Text mündet in einem klaren Appell, jeden Tag, jede Stunde und jede Minute als etwas Besonderes zu betrachten.
  • Es geht darum, das Leben nicht als eine Abfolge von gewöhnlichen Tagen zu sehen, die auf "besondere Anlässe" warten, sondern die Besonderheit im Alltäglichen zu erkennen und zu leben.

Insgesamt ist die Interpretation dieses Textes:

Ein einfacher, aber tiefgründiger Aufruf zur Achtsamkeit und zum bewussten Leben. Er erinnert uns auf bewegende Weise daran, dass die Zeit kostbar und unvorhersehbar ist. Anstatt auf einen idealisierten "besonderen Anlass" zu warten, sollten wir die Schönheit und die Möglichkeiten des gegenwärtigen Moments erkennen und nutzen. Die Geschichte des Freundes dient als mahnendes Beispiel und inspiriert dazu, Prioritäten neu zu setzen und das Leben in vollen Zügen zu genießen, solange wir es können. Der Text ist eine Ermutigung, Liebe auszudrücken, Freude zu suchen und die kleinen Dinge des Lebens wertzuschätzen – denn jeder Tag ist letztendlich ein "besonderer Anlass".