Die Schlüssel von Lichtenthal

Eine Neufassung der Sage "Lichtenthal"


Prolog

Wer heute durch Lichtental geht, hört wenig.
Der Weg ist schmal, der Wald tritt nahe heran, und selbst an hellen Tagen liegt über dem Tal eine Stille, die mehr ist als Abwesenheit von Lärm. Sie scheint geblieben zu sein.

In alten Aufzeichnungen findet sich der Hinweis auf eine alte Sage von Lichtenthal, die man einst nur zögernd erzählte. Sie sei älter als die jüngeren Klostermauern, heißt es, und habe Zeiten überdauert, in denen vieles andere verloren ging. Nicht jeder habe sie hören wollen, und nicht jeder, der sie kannte, habe sie weitergegeben.

Das Kloster selbst trägt keine Spuren von Brand oder Plünderung. Gerade das hebt es ab. Während ringsum Dörfer niedergebrannt und Kirchen geschändet wurden, blieb Lichtenthal verschont. Die Alten im Tal sagen, dies sei nicht aus Gnade geschehen, sondern aus Furcht.

Die Sage

Als die französische Soldateska im Krieg den Rhein überschritt, fraß sich die Verwüstung ins Land. Häuser wurden geöffnet wie Beute, Altäre zerbrochen, Felder zertreten. Wer fliehen konnte, floh. Wer blieb, verlor.

Auch Lichtental hörte das Herannahen. Das Kloster lag still unterhalb des Cäcilienberges, doch das Grollen des Krieges drang bis in die Gebete.

Die Äbtissin ließ die Glocke nicht schlagen. Kein Klang sollte die Nähe des Hauses verraten. In der Dämmerung wurden die heiligen Geräte zusammengetragen, die Gewölbe geöffnet, der alte unterirdische Gang freigelegt, von dem kaum noch jemand wusste, wohin er führte. Niemand sprach laut. Manche der Schwestern weinten, andere blickten starr auf die Mauern, als wollten sie sich jede Linie einprägen.

Bevor sie gingen, versammelten sie sich ein letztes Mal in der Kirche. Über einem Seitenaltar hing ein Marienbild, dunkel vom Alter, die Züge kaum mehr zu erkennen. Nur der Blick schien sich dem Licht zu entziehen.

Die Äbtissin löste die Schlüssel vom Gürtel. Schweres Eisen, glatt vom Gebrauch. In der alten Sage von Lichtenthal heißt es, sie habe gezögert, bevor sie sie über den Arm der Figur legte – als sei sie sich nicht sicher gewesen, wem sie diese Last übergab.

Dann verließen sie das Kloster durch den Gang unter der Erde.

Das Kloster blieb zurück.

Der Hof lag offen. Eine Tür schlug im Wind. Etwas klirrte, vielleicht ein loses Eisen. Sonst nichts.

Die französische Soldateska erreichte das Tal bei grauem Licht. Schritte im Kies. Gedämpfte Stimmen. Ein kurzes Lachen.

Einer rief etwas. Ein anderer antwortete. Die Stimmen wurden lauter.

Jemand stieß gegen die Pforte.

Noch einmal.

Holz splitterte. Die Tür gab nach.

Schritte.

Noch Schritte.

Dann –

nichts.

Kein Ruf. Kein Lachen. Kein Atem, der hörbar gewesen wäre.

Die Männer blieben stehen.

In der Halle stand etwas.

Es bewegte sich nicht. Es leuchtete nicht. Es war da.

Am erhobenen Arm hingen die Schlüssel des Klosters.

Einer ließ seine Waffe fallen. Das Geräusch war laut in der Stille.

Jemand wich zurück. Ein anderer stolperte.

Dann brach die Flucht los, ungeordnet, panisch, als habe sich etwas Schweres über sie gelegt. Einer schrie, etwas habe ihn berührt – nicht mit Händen, sondern mit Last.

Die Soldateska verließ das Tal.
Keiner kehrte zurück.

Epilog

Als die Nonnen Tage später zurückkamen, fanden sie das Kloster unversehrt. Kein Rauch, kein Blut, kein Zeichen fremder Schritte. Nur die Kirche wirkte verändert. Das Marienbild hing an seinem Platz, doch der Arm war leer.

Die Schlüssel wurden nie gefunden.

In der alten Sage von Lichtenthal heißt es, sie seien nicht verloren, sondern vergeben worden – und dass man nichts zurückfordert, was man selbst nicht mehr zu tragen vermochte.

Noch heute meiden manche die Totenkapelle bei Einbruch der Dunkelheit. Denn wer lange genug dort verweilt, so sagt man, hört ein leises Klirren. Nicht von Metall auf Stein, sondern von etwas, das gehalten wird.

Und wer dann nicht geht, soll spüren, dass Lichtental nicht bewahrt wurde, um geöffnet zu werden,
sondern um verschlossen zu bleiben.


© 29.12.2025 Gerd Groß