Die Fee vom Bühlerstein

Für Kinder ab 6+


Prolog

Am Lagerfeuer erzählte die Alte vom Bühlerstein. Es war einmal, in jenen Tagen, da die Menschen einander Geschichten am Feuer erzählten und nicht aus leuchtenden Kästen lasen.

Das Feuer knisterte leise. Funken stiegen in die Nacht. Die Kinder rückten näher und lauschten gespannt, während die Alte ihren Mantel enger zog und begann:

Die Geschichte

Hoch oben über dem Tal stand ein großer Felsen, den die Menschen den Bühlerstein nannten. Auf seinem Gipfel erhob sich ein Denkmal, ringsum lagen steinerne Sitzplätze. Von hier konnte man weit über Wälder, Wiesen und kleine Dörfer schauen. Die Leute sagten, der Felsen sei alt und weise, und wer ihm mit reinem Herzen begegnete, durfte seine Geheimnisse entdecken.

In einem kleinen Dorf unterhalb des Bühlersteins lebte ein Mädchen namens Anna. Sie war hilfsbereit zu Mensch und Tier und liebte es, durch die Wiesen zu streifen.

Eines Abends zog ein starker Sturm über das Tal. Der Wind heulte — die Bäume bogen sich — Wolken jagten wild über den Himmel.

Anna wollte gerade nach Hause, als ein Schrei wie ein feines Flattern ihre Ohren erreichte. Sie trat auf nassen Fels — ein Schritt zu spät. Das Herz schlug ihr bis in die Kehle. Der Boden glitt weg — sie schrie auf — ein Ast knackte — sie packte ihn mit zitternden Händen. Ihre Finger waren kalt und klamm. Auf ihrer Hand zitterte eine winzige Fee — zerknittert und kaum größer als ein Daumen.

"Halt dich fest!", flüsterte Anna. Sie zog die Fee in eine Felsspalte, die Schutz bot.

"Danke", piepste die Fee, und ein leises Kichern huschte über ihre Flügel. "Wir hüten die Quellen und das Licht, das die Welt am Morgen weckt. Ohne uns würden Quellen versiegen und das erste Licht des Tages schwächer werden."

Anna nickte. Sie wusste — sie musste helfen. Tapfer stieg sie auf den höchsten steinernen Sitz, hob die Hände und rief in den heulenden Wind: "Wind, sei sanft! Bring zurück, was du fortgetragen hast!"

Der Himmel hielt den Atem an. Der Wind verstummte. Im Mondlicht tanzten winzige Lichter zwischen den Fichten. Die Feenschwestern kehrten zurück — sie wirbelten um Anna und lachten leise wie Glockenspiel.

Plötzlich öffnete sich der Bühlerstein. Ein heller Klang wie zerbrechendes Glas erfüllte die Luft. Kaltes Goldlicht strömte heraus; es roch nach nassem Gras und Blüten, und es prickelte auf Annas Stirn. Im Licht tanzten kleine Staubfunken wie Sterne. Aus der Höhle trat ein alter Geist. Sein Bart funkelte wie Tau im Mondlicht; in seiner Hand hielt er einen Stab aus Kristall.

"Du hast Tapferkeit und Güte bewiesen, Menschenkind", sprach er. "Darum wird der Bühlerstein dich und dein Dorf beschützen."

Er tippte mit seinem Stab an den Felsen. Sofort erblühten weiße Blumen rund um den Bühlerstein. Ein warmes Flimmern zog durch die Luft; eine alte Frau lächelte und fühlte Ruhe in ihrem Herzen.

Am nächsten Morgen sprudelte eine abgelegene Quelle klarer als je zuvor. Ein Kind sang fröhlich am Brunnen; die Ziegen tranken friedlich. Kinder rannten über die Wiese und pflückten vorsichtig weiße Blüten, die sie zu Kränzen flochten. Die Felder blieben fruchtbar, und die Dorfbewohner sagten, der Bühlerstein habe aufgepasst.

Epilog

Von da an erzählten sie, dass der Felsen ein guter Freund sei, der auf alle Acht gab, deren Herz am rechten Fleck war. Wer genau hinhörte — wenn der Wind über den Bühlerstein strich — konnte ein leises Lachen hören: das Kichern der Feen, die einst ein mutiges Mädchen gerettet hatten. Eine kleine Flügelschlagbewegung huschte durch die Luft, als wollten sie Danke sagen.

Denn wer freundlich ist — und mutig zugleich — verwandelt selbst den größten Stein in Licht.

© 16.10.2025 Gerd Groß