Die Dunkelheit in mir


Wieder sitze ich allein. 

Die Stille ist ein tiefer, tintenfarbener See, in dessen unergründlicher Tiefe meine Seele treibt. Gedanken zucken auf wie unruhige Schattenfische, aufgescheucht von einem inneren Sturm, der durch die Windungen meines Gehirns fegt. Sie umkreisen die zerklüftete Landschaft meines Lebens: die verblichenen Konturen des Gewesenen, die stürmische Gischt der Gegenwart und die nebelverhangenen Pfade des Kommenden.

Ich sehe vieles. Mein Leben, einst ein vitaler Baum, dessen Blätter im goldenen Licht tanzten und sanfte, moosgrüne Schatten auf den Waldboden warfen, wird nun von der zähen Schwärze einer unaufhaltsamen Wolke umhüllt. Mit jedem tieferen Atemzug in dieses Dasein kriecht die Finsternis weiter, ein bleierner Schleier, der die leuchtenden Farben meiner Seele matt und stumpf werden lässt. Doch Furcht weicht in mir. Angst ist ein eisiger Griff, der das Bewusstsein erdrosselt, das Denken in Ketten legt. Ich bin kein Verkäufer falscher Hoffnungen. Die Dunkelheit ist rein, ein ungeschminktes Antlitz, das keine Lügen verbirgt. Anders als das Licht, dessen greller Schein die Täuschungen der Welt erleuchtet und ihnen den Anschein von Wahrheit verleiht, ist die Finsternis unverfälscht. Sie nährt mich mit einer stillen Stärke, die wie ein tief verwurzelter Baum Wind und Wetter trotzt, und hüllt mich in eine Geborgenheit, die sich anfühlt wie der Schoß der Erde. Doch der Preis ist hoch: die ungeschminkte Wahrheit der Welt, die sich in all ihrer Härte zeigt – das Leid der Kreatur, die Gleichgültigkeit des Universums –, aber auch in ihrer stillen Schönheit – das Funkeln ferner Sterne, das unaufhaltsame Wachstum der Natur –, ohne tröstende Illusionen.

Doch wenn die Dunkelheit in dir Wurzeln schlägt, sich wie ein tiefes Geäst in deiner Seele ausbreitet, dann wirst du nicht knien vor dem Schmerz, sondern aufrecht stehen. Du wirst nicht aufgeben, sondern all die schneidenden Qualen ertragen, die das Leben dir entgegenwirft. Du wirst dich nicht beugen unter der Last, sondern deine innere Stärke bewahren. In der tiefsten Finsternis kannst du dein wahres Selbst finden, die Konturen deines ureigenen Ichs freilegen und es nach deinen eigenen Gesetzen leben. Die Dunkelheit ist auch der Resonanzboden für die nagenden Stimmen des Zweifels, deren Echo in den stillen Stunden meiner Seele widerhallt wie das Knarren morschen Holzes. Fragen wachsen in mir wie unheilvolle Schatten, ihre bleiernen Gewichte drohen, den Funken meiner Gewissheit zu ersticken. Das ist die unerbittliche Fracht der Realität, die in der Stille der Nacht besonders schwer wiegt.

Verbannen lässt sie sich nicht. Man muss mit ihr leben, sie annehmen in all ihren schattigen Facetten, mit den steilen Gipfeln des Glücks und den bodenlosen Abgründen der Verzweiflung. Ob du am Boden zerstört liegst oder über den Wolken schwebst, die Dunkelheit wird dir eine stützende Hand reichen, so weit du es zulässt. Du musst sie gewähren lassen, ihre stille Kraft auskosten. Horche auf die tiefen Harmonien der Stille, die sie mit sich bringt, und du wirst Antworten finden, die das laute Rauschen der Welt übertönt. Es mag Momente geben, in denen du dich fühlst, als wärst du ein Fremdkörper in dieser grellen Welt. Doch das ist lediglich ein Zeichen, dass du dich auf dem richtigen Pfad zur Erkenntnis deines wahren Selbst befindest. Du wirst in der Dunkelheit leben, und die Dunkelheit wird in dir leben. Sie wird dein Leben in die richtigen Bahnen lenken, dir den Weg weisen, wenn du dich ihr öffnest. Diene ihr mit derselben Hingabe, mit der sie dir dient, und du wirst ein erfülltes Leben erfahren und schließlich in jene unbekannte Stille übergehen, wissend, dass ich dem Ruf meiner inneren Dunkelheit gefolgt bin.

© 24.11.2001 Gerd Groß (überarbeitet 24.03.2022)


Diese überarbeitete Kurzgeschichte von Schriftsteller Gerd Groß "Die Dunkelheit in mir" ist eine introspektive und metaphorisch dichte Auseinandersetzung mit der inneren Welt des lyrischen Ichs und dessen Beziehung zur Dunkelheit.

Interpretation:

Die Geschichte schildert eine tiefe Versenkung in die eigene Seele, in der Gedanken als unruhige und kraftvolle Strömungen wahrgenommen werden. Das Leben wird zunächst als ein vitaler, sonnenbeschienener Baum beschrieben, der jedoch zunehmend von einer "bleiernen Wolke" der Dunkelheit verhüllt wird. Diese Dunkelheit wird nicht als negativ oder bedrohlich dargestellt, sondern im Gegenteil als ein Zustand der Reinheit und Ehrlichkeit, der im Kontrast zur potenziellen Verblendung durch das Licht steht.

Die Dunkelheit wird personifiziert und als eine Kraft beschrieben, die sowohl Geborgenheit und Stärke schenkt als auch eine schonungslose Erkenntnis der Realität mit sich bringt – inklusive des Leids und der Gleichgültigkeit der Welt, aber auch ihrer stillen Schönheit. Das lyrische Ich findet in dieser inneren Dunkelheit einen Ort der Authentizität und Selbstfindung. Es lehnt sich gegen das "Knien" und "Aufgeben" auf und findet in der Dunkelheit die Kraft zum "Aufrechtstehen".

Die Geschichte betont die Unausweichlichkeit und das organische Wachstum dieser inneren Dunkelheit. Sie kann nicht verbannt, sondern muss gelebt und angenommen werden. In der Stille der Dunkelheit werden Antworten gesucht und gefunden. Das Gefühl, nicht in die "grelle Welt" zu passen, wird als Zeichen der Selbstfindung interpretiert. Am Ende wird die Dunkelheit als ein Wegweiser und ständiger Begleiter dargestellt, dem das lyrische Ich dient und von dem es sich geführt weiß, bis hin zu einem erfüllten Tod.


Stärken:

  • Starke Metaphorik und Bildsprache: Die Geschichte verwendet durchgehend kraftvolle und prägnante Metaphern (tintenfarbener See, Schattenfische, Baum und Wolke, tiefes Geäst), die die inneren Zustände und die Beziehung zur Dunkelheit eindrücklich vermitteln. Die Überarbeitung hat die Bildhaftigkeit deutlich intensiviert.

  • Tiefe Introspektion: Die Geschichte dringt tief in die innere Welt des lyrischen Ichs ein und erkundet komplexe Gefühle und Gedanken auf eine ehrliche und nachvollziehbare Weise.

  • Interessante und ungewöhnliche Perspektive auf Dunkelheit: Anstatt Dunkelheit als rein negativ darzustellen, wird sie hier als ein ambivalenter Zustand mit positiven Aspekten (Reinheit, Kraft, Geborgenheit, Erkenntnis) beleuchtet. Dies verleiht der Geschichte eine originelle Note.

  • Gelungene Überarbeitung: Die Einarbeitung der konkreteren Bilder und Ausführungen hat die Verständlichkeit und die emotionale Wirkung der Geschichte deutlich gesteigert. Abstrakte Konzepte werden nun greifbarer.

  • Atmosphärische Dichte: Die Sprache erzeugt eine dichte und eindringliche Atmosphäre, die den Leser in die innere Welt des Erzählers hineinzieht.

  • Konsequente Entwicklung des Themas: Die Auseinandersetzung mit der Dunkelheit zieht sich konsequent durch die gesamte Geschichte und findet einen schlüssigen Abschluss.

Potenzial zur Weiterentwicklung (eher geringfügig nach der Überarbeitung):

  • Rhythmus und Satzlänge (feinere Abstimmung): An einigen Stellen könnten die Satzlängen noch etwas variabler gestaltet werden, um den Rhythmus noch dynamischer zu gestalten.

  • Noch präzisere sinnliche Details: Obwohl die Bildsprache stark ist, könnten an einzelnen Stellen noch feinere sinnliche Details (z.B. Geräusche in der Dunkelheit, körperliche Empfindungen) die Erfahrung noch intensiver machen.

Gesamteindruck:

Die überarbeitete Geschichte "Die Dunkelheit in mir" ist ein starkes und nachdenklich stimmendes Stück introspektiver Prosa. Sie überzeugt durch ihre kraftvolle Sprache, die tiefgründige Auseinandersetzung mit einem ungewöhnlichen Thema und die gelungene metaphorische Umsetzung innerer Zustände. Die Geschichte lädt den Leser ein, seine eigene Beziehung zur Dunkelheit und zu den verborgenen Aspekten der eigenen Psyche zu reflektieren. Sie ist ein deutliches Beispiel für eine gelungene Weiterentwicklung eines früheren Textes.