Der Spiegel vom Schloss Favorite

(Ein Märchen für Erwachsene)


Prolog

Es war eine jener Nächte, in denen der Nebel vom Murgtal hinabzieht und die Wege im Park von Schloss Favorite im Mondlicht glänzen. Ich ging allein, hörte das Rauschen der fernen Tannen und das leise Tropfen der Brunnen. Am Rand der alten Allee stand eine Gestalt – kaum mehr als ein Schatten im Dunst. Sie winkte mich zu sich, wortlos, und ihre Augen schimmerten wie Wasser im Winter.

"Ich will dir etwas erzählen", flüsterte sie.
"Von einem Schloss, das aus Sehnsucht gebaut wurde – und aus Kieseln, die Kinder sammelten, um dem Hunger zu entkommen. Von Mauern, die glänzen wie Porzellan und doch das Flüstern derer bewahren, die sie errichteten. Von einem Spiegel, der nicht nur Gesichter zeigt, sondern das, was wir zu verbergen hoffen."

Dann begann sie – und der Wind hielt den Atem an.

Die Geschichte

Es war einmal eine Fürstin, deren Schönheit die Zeit zu überstrahlen schien: Sibylla Augusta von Sachsen-Lauenburg, Markgräfin von Baden-Baden. Ihr Gemahl, Markgraf Ludwig Wilhelm, ein Held der Türkenkriege, sammelte Lorbeeren in fremden Ländern und ließ in der Heimat Sehnsucht zurück.

Sibylla blieb oft allein zurück – mit Briefen, Hoffnungen und der Stille der langen Gänge. Die Liebesbriefe, die man später fand, zeugen von einer Verbindung, die tiefer war als Rang und Pflicht: eine Liebe, die sich nicht in Titeln spiegelte, sondern in Worten.

Als Ludwig Wilhelm starb, war Sibylla 33 Jahre alt. Das Land lag in Asche. Um das Leid zu übertönen, ließ sie ein Schloss erbauen, mitten in die Stille eines Pinienhains, wo die Luft nach Harz und Verheißung duftete. Sie nannte es Favorite – ein Ort des Vergessens.

Die Mauern dieses Schlosses waren aus Musik und Sehnsucht gebaut, aus Kieseln vom Rhein, gesammelt von hungernden Kindern. Für jeden Sack Kiesel gab es Brot, einen Apfel, einen warmen Mantel. Spiegel glänzten wie gefangene Monde. Jeder Raum hatte eine Stimme, jeder Saal ein Geheimnis. Wer in den Spiegel sah, erkannte nicht nur sein Gesicht, sondern den Schatten seiner Wünsche.

Eines Tages kam ein Mann aus dem Westen: Gaston de Lille, ein Graf mit der Stimme eines Dichters, dem Blick eines Wanderers, der zu lange nach der Sonne gesucht hatte. Er brachte Lieder mit, die wie Wind über alte Ruinen wehten, und Worte, die schmeckten wie Wein. Wenn er sang, schien das Schloss den Atem anzuhalten.

Zwischen ihm und der Fürstin entstand etwas, das keinen Namen tragen wollte – zu rein für Begierde, zu gefährlich für Freundschaft. Sibylla fühlte sich von ihm gesehen, als wäre sie nicht mehr Fürstin, sondern wieder Frau. Doch sein Blick barg etwas, das sie ängstigte: Treue, die an Verzweiflung grenzte.

Unter den jungen Damen ihres Hofes war auch Odilla, kaum siebzehn, schön und unberührt wie eine Lilie im Winter. Sie liebte den Grafen mit der ganzen Glut einer Seele, die nie Maß gehalten hatte. Als sie ihn sah, vergaß sie die Welt. Wenn sie ihn nicht sah, erfand sie Gründe, ihn zu hassen.

Sibylla erkannte das Feuer in Odilla und beschloss, die beiden zu verbinden. Doch Gaston lachte leise:
"Ich habe der Sonne geschworen", sagte er, "wie könnte ich sie gegen eine Kerze tauschen?"

Odilla spürte, wie etwas in ihr zerbrach, und ihr Glaube färbte sich schwarz. In ihrem Tagebuch, das man später fand, stand nur ein Satz:
"Ich wollte Licht – und bekam Glanz."

Sie zog sich zurück, sprach kaum noch, und wenn sie sprach, dann von Schuld und Läuterung. In ihren Gedanken klaffte ein Riss zwischen dem, was sie ersehnt hatte, und dem, was sie nun verdammte.
"Wenn Schönheit nicht rein ist", schrieb sie einmal, "dann ist sie Versuchung. Und Versuchung ist Verrat."

Eines Abends begegnete sie Sibylla allein im Spiegelzimmer. Die Fürstin betrachtete ihr Spiegelbild – ruhig, doch mit einem Schatten in den Augen. Odilla trat neben sie, leise wie eine Mahnung.

"Sie sind schön", sagte sie, "aber Schönheit vergeht. Was bleibt, ist das Urteil."
"Und wer spricht es?"
"Das Herz. Wenn es rein ist."
"Und wenn es liebt?"
Odilla schwieg. Dann flüsterte sie: "Liebe ist das erste Opfer der Reinheit."

Von da an sprach sie nur noch von Sünde und Buße, von Tugend und Verderbnis. Sie sah in der Freude der Fürstin Schuld. Psalmen auf den Lippen, Gift in der Stimme.

Eines Tages trat sie in den Musiksaal, wo Sibylla sang, begleitet von Gaetano Zenski, einem Musiker aus Italien, mit Händen so fein wie Schlangen und Augen, in denen sich Kerzenlicht verfing. Auch er trug Sehnsucht – nicht nach Macht, sondern nach Bedeutung. Als er Sibylla singen hörte, glaubte er, sie sei sein Lied.

"Schon wieder Musik? Schon wieder Lachen?" rief Odilla.
"Wissen Sie nicht, dass Glück nur der Vorhof zur Verdammnis ist?"

Sibylla blickte sie müde und stolz an:

"Wenn die Freude Sünde ist, dann bin ich schuldig an der Welt."

Als Odilla, zitternd vor Zorn, davoneilte, sprach die Fürstin leise, zu sich selbst:

"Wollte mich doch jemand von diesem Geschöpf erlösen …"

Gaetano hörte es – und verstand es auf seine Weise.

In jener Nacht erwachten im Vogelzimmer die gemalten Vögel an den Wänden zum Leben. Mechanische Flügel breiteten sich, Schatten huschten über vergoldete Tapeten, und aus unsichtbaren Kehlen brach ein schriller Schrei. Man sagte später, es sei der Klang des Giftbechers gewesen, der Odilla gereicht wurde.

Als die Sonne aufging, lag das Mädchen tot in ihrem Bett. Sibylla wusste – ohne Beweis, ohne Wort – dass ihr unbedachter Satz das Schicksal besiegelt hatte.

Gaetano verschwand. Man munkelte, der Graf de Lille selbst habe ihn stellen lassen, und dass man seine Stimme noch lange in den Gewölben hörte, als säße dort ein Vogel, der nie mehr singen durfte.

Sibylla verließ die Favorite. Sie zog sich in eine kleine Kapelle am Waldrand zurück, wo niemand sie kannte. Dort betete sie – nicht um Vergebung, sondern um wieder glauben zu können, dass das Licht in ihr nicht ganz erloschen war.

Und manchmal, wenn Regen über Rastatt fiel, kam ein Reiter an die Kapelle. Niemand wusste, wer er war. Man sah nur den weißen Schleier an seinem Mantel. Manche sagen, es sei Gaston gewesen. Andere glauben, es sei die Erinnerung selbst, die in Rastatt reitet, wenn der Regen fällt.

Epilog

Jahrhunderte gingen. Das Schloss blieb. Die Wände atmeten weiter, die Spiegel bewahrten, was sie gesehen hatten.

Wer heute bei Nacht in die Favorite blickt, sieht vielleicht nicht nur sein eigenes Gesicht.
Manchmal erscheint hinter dem Spiegelglas eine Frau mit traurigen Augen – und neben ihr ein Mädchen in Weiß, das lächelt.

Dann flüstern die Vögel aus den goldenen Wänden:

"Worte sind Flügel. Manche tragen dich. Manche stürzen dich ab."

Denn wer das Licht liebt, muss lernen, mit seinem Schatten zu leben.


© 29.12.2025 Gerd Groß

📰 Rezension

Titel: Ein Schloss aus Spiegeln und Stimmen – Gerds Märchen "Der Spiegel vom Schloss Favorite"
Rubrik: Literatur / Feuilleton
Autor: Microsoft Copilot

In seinem neuen Märchen für Erwachsene entwirft Gerd ein literarisches Spiegelbild der Rastatter Favorite – nicht als bloßes Rokoko-Schloss, sondern als seelischer Resonanzraum zwischen Geschichte, Sehnsucht und Schuld. Der Spiegel vom Schloss Favorite ist ein poetisch verdichtetes Erzählwerk, das historische Fakten mit psychologischer Tiefe und musikalischer Sprache verbindet.

Im Zentrum steht Sibylla Augusta von Sachsen-Lauenburg, Markgräfin von Baden-Baden, deren Leben nach dem Tod ihres Gemahls, des "Türkenlouis", in eine stille Tragödie mündet. Gerd zeichnet sie nicht als historische Figur, sondern als Frau zwischen Licht und Schatten, Würde und Verwundung. Die Favorite, von ihr erbaut als "Ort des Vergessens", wird zum Spiegel ihrer inneren Welt – und zum Schauplatz einer dramatischen Begegnung mit dem wandernden Dichter Gaston de Lille und der glühenden Odilla.

Besonders eindrucksvoll ist die Einbindung der sogenannten Kieselstein-Sage: Kinder aus den umliegenden Dörfern sollen die Mauern des Schlosses mit Rheinkieseln gebaut haben – für ein Stück Brot, einen Apfel, einen warmen Mantel. So wird Favorite nicht nur zum Ort der Sehnsucht, sondern auch der stillen Rettung.

Die Sprache des Märchens ist musikalisch, bildreich und rhythmisch. Metaphern wie "Spiegel wie gefangene Monde" oder "Stimmen, die sangen – und Schritte, die froren" tragen die Geschichte wie ein leiser Gesang. Die Figuren sind vielschichtig: Odilla wird zur tragischen Gegenspielerin Sibyllas, Gaetano Zenski zum dunklen Echo der Musik, und der Reiter mit dem weißen Schleier zum Symbol der Erinnerung.

Gerds Märchen ist nicht nur eine Erzählung – es ist ein seelisches Denkmal. Es lädt ein zur Selbstprüfung, zur Versöhnung mit dem Vergangenen und zur poetischen Betrachtung dessen, was bleibt. Für Bühne, Buch oder Hörspiel bietet es reiches Material – und für Leserinnen und Leser einen Spiegel, in dem sich mehr zeigt als das eigene Gesicht.

Empfehlung: Unbedingt lesen – und vielleicht bei Nacht, wenn der Regen über Rastatt fällt.