Der letzte Schmetterling


Ein kleiner Falter an der Scheibe saß
draußen am Fenster kalt und eisig war,
gelockt vom Kerzen magischen Schimmer
Wollte er ins warme offene Zimmer.


Eine unsichtbare Macht erkannte
verwehrt den Eintritt und ihn verbannte.
Wohlige Wärme durch sie aufsteigen,
würde gerne noch viel länger bleiben.


Die Flügel und Glieder steif gefroren,
zum Überleb'n wurde er geboren,
sah er hinein in einen hellen Raum,
vergessen ein lange ersehnter Traum.


Warme Sonne im Fluge suchen,
grüne Wiesen und die bunten Blumen,
hat er sich den Blüten frei ergeben,
vom Ast zu Blätter sich zu erheben.


Helle Tage die nie enden wollen,
dunkle Nächte mit Gewitter grollen,
neblige Wolken nicht mehr weinen,
wohlig wärmende Strahlen erscheinen.


Dies Gefühl noch einmal zu erfahren,
sein Leben kann er dafür anmahnen,
noch einmal hin, ein wundervoller Traum,
sich nochmals setzen unter seinen Baum.


Zu zweit, Erinnerung, schon lange her,
bereits vergessen, wiegt immer noch schwer.
In Gedanken sorglos wieder heiter,
zieht er mit leichten Flügelschlag weiter,


zu einem geheimnisvollen Ort,
ergeben seinem Schwur im Bild und Wort,
werden große Flügel ausgebreitet,
noch einmal zum letzten Flug begleitet.


Ergeben hat er sich dem großen Ziel,
verschwendende Kraft im tödlichem Spiel,
erhobenen Hauptes will er fliegen,
seiner größten Sehnsucht zu erliegen.


Aufgestiegen bis in kalter Höhe
mit dem Wind durch eine Böe,
Abschied nehmend von dieser schönen Welt.
zum letzten mal gesehen,- - als er fällt.


© Gerd Groß 02.11.2002


Ein tief berührendes und melancholisches Gedicht, Gerd Groß. Es erzählt auf poetische Weise von Sehnsucht, unerreichbaren Wünschen und dem tragischen Ende einer kurzen Existenz.

Interpretation:

Das Gedicht schildert das Schicksal eines kleinen Falters, dessen Sehnsucht nach Wärme und Leben ihn zu einem tragischen Ende führt.

  • Die Anziehung des Lichts: Der Falter, gefangen in der Kälte der Außenwelt, wird magisch vom warmen Lichtschein im Inneren des Zimmers angezogen. Dieses Licht symbolisiert Wärme, Geborgenheit und vielleicht auch das Leben selbst.

  • Die unüberwindliche Barriere: Eine "unsichtbare Macht" – das Fensterglas – verwehrt ihm den Eintritt. Diese Barriere steht für die unüberwindlichen Hindernisse, die uns manchmal von unseren Sehnsüchten trennen. Die wohlige Wärme bleibt unerreichbar.

  • Die Erinnerung an einen verlorenen Traum: Der Blick in den hellen Raum weckt in dem Falter die Erinnerung an einen "lange ersehnten Traum" – warme Sonne, grüne Wiesen, bunte Blumen, ein Leben in Freiheit und Fülle.

  • Die Sehnsucht nach dem Leben: Die Strophen über die warme Sonne, die Blüten und die hellen Tage drücken die elementare Sehnsucht des Falters nach einem erfüllten Leben aus, das er vielleicht schon einmal erfahren hat oder sich erträumt.

  • Die Akzeptanz des Schicksals: Die Zeilen "sein Leben kann er dafür anmahnen" deuten an, dass der Falter bereit ist, sein kurzes Leben für die Erfüllung dieser Sehnsucht einzusetzen. Der "wundervolle Traum", noch einmal unter seinem Baum zu sitzen, wird zum alles bestimmenden Ziel.

  • Die verlorene Zweisamkeit: Die Andeutung einer verlorenen Zweisamkeit ("Zu zweit, Erinnerung, schon lange her") fügt eine weitere Ebene der Melancholie hinzu. Diese Erinnerung, obwohl verblasst, wiegt immer noch schwer und treibt ihn vielleicht zusätzlich an.

  • Die innere Reise: In Gedanken findet der Falter kurzzeitig Trost und Heiterkeit, bevor er sich auf seine finale, äußere Reise begibt.

  • Die Ergebung an das Ziel: Der Falter folgt einem inneren "Schwur", einem unbedingten Drang, sein Ziel zu erreichen. Die "großen Flügel" werden ausgebreitet für den "letzten Flug".

  • Das tödliche Spiel der Sehnsucht: Die "verschwendende Kraft im tödlichem Spiel" beschreibt den aussichtslosen Kampf gegen die unüberwindliche Barriere. Trotz erhobenen Hauptes führt seine größte Sehnsucht zum Untergang.

  • Der tragische Fall: Der Aufstieg in die kalte Höhe und der Fall, "zum letzten mal gesehen", bilden einen tragischen Abschluss. Die Schönheit der Welt wird im Moment des Abschieds noch einmal betont.

Bewertung:

Das Gedicht ist eine wunderschöne und zugleich traurige Allegorie auf die Macht der Sehnsucht und die Unbarmherzigkeit der Realität. Die zarten Bilder des Falters und die kontrastierenden Beschreibungen der warmen Innenwelt und der kalten Außenwelt erzeugen eine starke emotionale Wirkung.

Die Personifizierung des Falters lässt uns mit seinem Wunsch nach Wärme und Leben mitfühlen. Sein unbedingter Drang, diesen Wunsch zu erfüllen, und sein tragisches Scheitern berühren tief.

Die Themen von unerreichbarer Sehnsucht, dem Festhalten an Träumen und dem unausweichlichen Schicksal werden auf eine poetische und eindringliche Weise verhandelt. Das Gedicht regt zum Nachdenken über unsere eigenen Sehnsüchte und die Grenzen, denen wir manchmal begegnen, an.

© Gemini