Der einsame Wanderer


Der Wetterkapriolen überdrüssig, geht ein junggebliebener Wandersmann flüssig seinen Weg durch eines Waldes Hain. Am Wegesrand knorrige alte Eiben, Krüppel-Kiefer und Wacholderheide. Sie brechen Sturm und Böen, halten Regen, Blitz und Hagel auf Distanz im Wechsel zum Sonnenschein in seinem Glanz.

Ein alter Mann thront am Wegesrand, vor ihm ein Pferd mit 8 Beinen stand, zwei Wölfe sind seine Begleiter, auf seinem Wanderstab zwei weiße Raben reiten und über buschigen Augenbraunen eine schwarze Augenklappe gezogen, sieht er den Jungen einäugig an und spricht: "Was haderst du mit dir und deinem Weg? Die Sonne zu heiß, der Regen zu nass? Ist es nicht recht was dir passiert, ist es der Zeitenlauf der dich stört? Walküren raunen deinen Namen, doch für Walhall ist es für dich zu früh. Hel fragt nach dir, … willst du in Helheim wohnen?"

Der Junge schaute ihn eindrucksvoll an:

"Wer bist du, der mich kennt? Dass du mir meine Zukunft nennst?"

"Sieh hinauf zum Firmament. Am Himmel, Sol ihrem Wagen lenkt, gezogen von den Pferden Arvakr und Alsvidr, und vor der Hitze schützt das Schild Swalin, gejagt von Skoll dem bösen Wolf. Gewissheit plagt, das Ende naht, nicht hier und im Moment. Auch Thor der starke Recke, kann Skoll nicht erschrecken, kein Donner, kein Blitz vermag den Zeitenlauf nieder strecken. Doch ist Gewissheit angesagt, das Hoffnung bleibt - ganz ungefragt."

Der Alte sah ihn tief in seine Augen, zieht eine Schale unter leisen raunen, füllt sie mit Wasser aus dem Bache, erklärt ihm den Ernst der Sache und erachtete ihn hinein zu blicken ohne den Rand anzutippen.

"Nicht alles zeigt dieser Spiegel, ist er gefährlich als Führer von Taten und manche Dinge werden nie geschehen, es sei denn, man wird von seinem Pfad abweichen um sie zu verändern."

Der junge Wandersmann tritt an die Schale heran, blickt so fest auf das Wasser wie er nur kann. Tiefer, tiefer und immer tiefer zieht es ihn, bis er sich auf einer Klippe stehen sieht. Umgeben von der Unendlichkeit erscheint sein Sein. Im Blick getrübt macht sich Ungewissheit breit, sein Weg ist unbestimmt für alle Zeit, ist doch der Tod sein treuster Freund. Das Leben meist geträumt, stetig auf und ab im Streit, so zollt die Angst Verlässlichkeit.

Kein klärendes Wort, kein ungetrübter Blick und schemenhaft sich die Zukunft zeigt. Wie soll er wissen, was er nicht weiß wenn Sinnigkeit ihm nicht verheißt. Ratlos steht er, nur ein Schritt vom Tod geweiht.

Eine Frau so schön, wie nie gesehen sprach ihn an um ihn zu verstehen. Sie gab ihm Auskunft auf seine Fragen, klärte auf die vielen Klagen, zeigt ihm den Weg der Unendlichkeit und führt ihn in eine neue Welt hinein. Voller Zukunft und Pracht sein Weg erscheint, erklärt er sich für das neue Ziel bereit.

"Wie ist dein Name schöne Frau, wie werde ich dich nennen." "Freya, du wirst mich schon erkennen."

Das Bild verblasst und entflieht - er nur auf das Wasser sieht. Er hat begriffen was geschieht. Sein Blick gerichtet voller Achtung, sieht er zu Sol in voller Hoffnung.

Der Alte in voller Weisheit spricht, gibt Rat, zeigt Tat in voller Übersicht. "Zeig Ehrfurcht vor dem letzten Kampfe, sie kann Skoll nicht besiegen, so hat sie Gewissheit zu entkrampfen. Steht Tag für Tag ihren Mann, dasselbe Spiel, sie geht, sie kommt, doch unbestimmt bleibt die Götterdämmerung."

Der Wandersmann erfährt: Wie klein ist sein Erschrecken, ist er doch für sich der Held, der seine Welt muss neu entdecken. Braucht er nicht Macht oder Geld an die er sich muss ketten. Im Sinn der Zeit liegt die Persönlichkeit bleibt Tod und Leben bis zur Unendlichkeit.


© 2019.05.11 Gerd Groß



Interpretation von "Der einsame Wanderer" 

Diese Ballade von Schriftsteller Gerd Groß entführt den Leser in eine symbolträchtige Wanderung durch eine mythisch anmutende Landschaft, in der die Begegnung mit einer rätselhaften Gestalt zu einer tiefgreifenden Auseinandersetzung mit dem Leben, dem Tod und der eigenen Bestimmung führt.

Zentrale Aspekte der Interpretation:

1. Die Naturbeschreibung als Spiegel der inneren Verfassung:

  • Die einleitende Beschreibung des Waldes mit seinen widerstandsfähigen, aber auch "Knorrige[n]" und "Krüppel-" Gewächsen mag die innere Stärke und Widerstandsfähigkeit des Wanderers andeuten, aber auch seine mögliche Verletzlichkeit oder die Widrigkeiten seines Lebensweges.
  • Die "Wetterkapriolen" könnten für die Unbeständigkeit und die Herausforderungen des Lebens stehen, denen der Wanderer "überdrüssig" ist.

2. Die Begegnung mit dem mystischen Alten:

  • Die Gestalt des alten Mannes ist zutiefst symbolisch und erinnert an mythologische Figuren (Odin mit seinen Raben und der Augenklappe). Das Pferd mit acht Beinen (Sleipnir in der nordischen Mythologie) und die zwei Wölfe verstärken diesen Eindruck.
  • Seine Fragen an den Wanderer thematisieren dessen Unzufriedenheit mit dem gegenwärtigen Moment und werfen existenzielle Fragen nach dem Sinn des Lebens und dem Schicksal auf.
  • Die Anspielungen auf die nordische Mythologie (Walküren, Walhall, Hel, Helheim) deuten auf eine tiefere Ebene der Auseinandersetzung mit Leben und Tod hin. Die Frage, ob der Wanderer nach Helheim gehen will, konfrontiert ihn direkt mit der Endlichkeit.

3. Die kosmische Perspektive des Alten:

  • Die Antwort des Alten erweitert die Perspektive des Wanderers auf eine kosmische Ebene. Die Beschreibung von Sol (der Sonne) auf ihrem Wagen, gejagt von Skoll, veranschaulicht die unaufhaltsamen Kräfte der Natur und des Schicksals.
  • Die Aussage, dass selbst Thor Skoll nicht aufhalten kann, betont die Unabwendbarkeit des "Zeitenlaufs" und des Endes.
  • Die tröstende Botschaft des Alten liegt in der Gewissheit, dass trotz des unausweichlichen Endes "Hoffnung bleibt - ganz ungefragt."

4. Der Blick in den Spiegel des Lebens:

  • Die Schale mit dem Wasser, in die der Alte den Wanderer blicken lässt, fungiert als ein Spiegel der Seele oder des Schicksals. Die Warnung, dass dieser Spiegel nicht alles zeigt und gefährlich sein kann, wenn man versucht, das Unveränderliche zu beeinflussen, ist bedeutsam.

5. Die Vision der Klippe und der Unendlichkeit:

  • Die Vision des Wanderers, sich auf einer Klippe inmitten der Unendlichkeit zu sehen, ist ein starkes Bild der existentiellen Isolation und der Konfrontation mit der eigenen Sterblichkeit.
  • Die "getrübte[r] Blick" und die "Ungewissheit" spiegeln die Angst vor dem Unbekannten und die Unbestimmtheit des Lebensweges angesichts des Todes ("sein treuster Freund").
  • Die Beschreibung des Lebens als ein ständiges Auf und Ab im Streit, beherrscht von der Angst, vermittelt ein Gefühl der inneren Zerrissenheit.

6. Die rettende Begegnung mit Freya:

  • Das Erscheinen der schönen Frau, die sich als Freya (in der nordischen Mythologie die Göttin der Liebe, Schönheit und Fruchtbarkeit) zu erkennen gibt, markiert einen Wendepunkt.
  • Ihre Auskunft und Führung in eine "neue Welt voller Zukunft und Pracht" symbolisiert die Möglichkeit der Transformation, der Hoffnung und eines neuen Lebensabschnitts. Die Bereitschaft des Wanderers für dieses neue Ziel deutet auf eine innere Öffnung hin.

7. Die Verabschiedung und die Lehren des Alten:

  • Das Verblassen der Vision und der Blick des Wanderers zu Sol in Hoffnung deuten auf ein Erwachen und eine neue Perspektive.
  • Der erneute Rat des Alten betont die Ehrfurcht vor dem "letzten Kampfe" (dem Tod) und die Unaufhaltsamkeit des natürlichen Zyklus (Sol, die kommt und geht).
  • Die Erkenntnis des Wanderers, dass sein Erschrecken klein ist und er selbst der Held seiner eigenen Welt ist, markiert eine Stärkung seines Selbstbewusstseins und eine Akzeptanz seiner individuellen Verantwortung.
  • Die abschließenden Verse betonen die Bedeutung der Persönlichkeit im Fluss der Zeit und die Unausweichlichkeit von Leben und Tod bis zur Unendlichkeit.

Interpretation im Gesamtkontext:

"Der einsame Wanderer" ist ein poetisches Gleichnis über die menschliche Suche nach Sinn und die Auseinandersetzung mit der eigenen Sterblichkeit. Die mythologischen Anspielungen verleihen dem Gedicht eine zeitlose und universelle Dimension. Der Wanderer durchläuft eine innere Reise, die von anfänglicher Unzufriedenheit und Angst zur Erkenntnis der eigenen Stärke und der Akzeptanz des Lebenszyklus führt. Die Begegnung mit dem Alten und die Vision Freyas symbolisieren möglicherweise innere Weisheit und die Kraft der Hoffnung und der Liebe, die dem Einzelnen helfen, seinen eigenen Weg zu finden und die Herausforderungen des Lebens anzunehmen. Das Gedicht ermutigt dazu, die eigene Persönlichkeit im Angesicht der Unendlichkeit zu erkennen und die eigene Welt selbst bestimmt zu entdecken.