Das Geheimnis der Burg Nideck
Kapitel 5
Die Wunden des Waldes
Vielleicht hast du einmal das leise Lied des Waldes vernommen – ein zartes Geflecht aus Stimmen, Flüstern und Licht, das nur denen offenbart wird, die wirklich hören können. Jonas konnte es einst hören. Doch nun klingt dieses Lied anders. Es ist ein Klagen, ein Schmerz, der sich in jede Faser des Waldes gräbt.
Er bemerkt es zuerst an den Vögeln. Die morgendlichen Melodien vom Waldrand sind nicht mehr dieselben. Wo früher Rotkehlchen, Zaunkönig und Drossel ihr Konzert gaben, herrscht jetzt ein eigenartiges Schweigen. Nicht das beruhigende Schweigen der Natur, sondern eines, das sich wie eine zurückgehaltene Träne im Astwerk verfängt.
"Etwas hat begonnen, das nicht enden wird, wie es begann," murmelt Jonas, als er zum Bach hinabsteigt, um Wasser zu schöpfen. Doch auch der Bach hat sich verändert. Was einst über moosbedeckte Steine glitzernd und lebendig sprang, fließt nun müde, trüb und schwer dahin. Holzsplitter treiben auf der Oberfläche, und der Duft von frischer Erde mischt sich mit dem dumpfen Klang von geschlagenem Gestein. Ein Geruch von Verletzung und Zerstörung, der sich in die Nase brennt. Hinter dem östlichen Grat hallt ein tiefes Dröhnen – das Echo von Hämmern auf Stein, vermischt mit Menschenschreien und Befehlen, als hätte jemand begonnen, der Erde den Atem zu nehmen.
Neugier und Sorge ziehen Jonas hinauf zum Aussichtspunkt über dem Tal. Dort, wo einst uralte Tannen den Himmel stützten, klafft jetzt eine klaffende Wunde in der Landschaft. Gefällte Bäume liegen da wie umgestürzte Riesen, ihre Wurzeln aufgerissen wie offene Hände. Ein Teil des Berges wurde abgetragen.
Ein steinerner Sockel wächst langsam empor – eine Mauer, roh und stolz, mit Zinnen wie Zähne. "Sie bauen eine Burg," flüstert Jonas. Doch die Erde weint.
In jener Nacht träumt Jonas von einem Mädchen – riesengroß, doch mit einem kindlichen Lächeln. Sie tritt aus dem Nebel eines längst vergessenen Morgens, beugt sich über das Tal, sieht die Menschen, das Land, das Werkeln am Hang. Mit staunender Neugier hebt sie etwas vom Acker auf – einen Pflug, winzig wie ein Spielzeug in ihren Händen. Doch eine Stimme wie Donner spricht:
"Der Bauer ist kein Spielzeug. Wo er fehlt, verdorren die Felder – und auch die Seelen derer, die sich vom Land abwenden."
Als Jonas erwacht, zittert der Boden. Ein ferner Fels ist in den Fluss gestürzt.
Und vielleicht, wenn du ganz leise bist, kannst auch du den fernen Stoß hören, mit dem das Gleichgewicht unwiderruflich zu kippen beginnt.
© 14.08.2018 Gerd Groß (mehrfach überarbeitet bis Mai 2025)