Das Geheimnis der Burg Nideck

Kapitel 4


Der menschliche Kontrapunkt

Vielleicht hast du schon geahnt, dass in Geschichten wie dieser immer zwei Ströme fließen – wie ein Fluss, der sich teilt, um sich später in einem großen Strom wieder zu vereinen. Hier beginnt der zweite Lauf, und du trittst hinein in ein anderes Leben.

Nicht weit entfernt von den uralten Mauern der Burg Nideck lebte ein Mädchen, das mit offenen Augen durch die Welt ging. Ihr Name war Leana, und in ihrem Herzen wohnten Licht und Schatten zugleich. Sie liebte die Natur, das Rascheln der Blätter, das Spiel des Windes auf ihrer Haut – doch in ihr lag auch die Angst vor dem, was die Alten flüsternd "die Riesen" nannten. Eine Angst, die nicht nur eine Geschichte war, sondern eine Ahnung von drohendem, unbekanntem Unheil.

Manchmal wachte sie nachts auf, weil sie meinte, schwere Schritte in der Tiefe der Erde zu spüren. Manchmal blieb sie am Waldrand stehen, weil etwas sie rief – oder warnte.

Doch sie ging nie weiter. Bis zu jenem Abend.

Es war die Stunde zwischen Tag und Traum, als sich ihre Wege kreuzten. Jonas trat aus dem Schatten des Pfades, und Leana erkannte ihn sofort – nicht mit den Augen, sondern mit jenem inneren Wissen, das sich nicht erklären lässt.

"Du bist also der, von dem alle sprechen?" fragte sie. Ihre Stimme war ruhig, doch ihre Augen funkelten – wie jemand, der spürt, dass das Spiel des Lebens eine neue, unberechenbare Figur auf das Feld gesetzt hat, und der Ausgang ungewisser ist denn je.

Jonas nickte. Er wirkte erschöpft, doch nicht gebrochen.

"Ich weiß nicht, wohin dieser Weg führt," sagte er, "aber ich kann die Stimmen hören."

Ein Moment des Schweigens spannte sich zwischen ihnen – kein leerer, sondern einer voller Möglichkeit. Dann sagte Leana, ohne zu zögern:

"Dann lass uns gemeinsam herausfinden, was das Geheimnis der Burg Nideck ist. Vielleicht finden wir nicht nur Antworten… sondern auch den Schlüssel zu uns selbst."

Du merkst, nicht wahr? Zwei Lebensfäden haben sich berührt. Und wie bei jedem großen Gewebe weiß man nie, ob daraus ein Netz, ein Knoten – oder eine Schlinge entsteht, aus der es kein Entkommen gibt.


© 14.08.2018 Gerd Groß (mehrfach überarbeitet bis Mai 2025)  

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