Das Geheimnis der Burg Nideck

Kapitel 28


Das Erwachen im Gestein

Der Morgen brach an wie ein silberner Schleier, der sich sanft über die Hügel legte. Nebelfäden zogen durch das Tal und ließen die Welt still erscheinen – als hielte sie den Atem an. Jonas und Leana standen auf einem Felsplateau nahe der alten Burg, von dem aus man den Wasserfall sah, der wie ein Schleier aus Licht und Donner in die Tiefe stürzte. Das Amulett an Jonas' Hals begann sacht zu glühen, eine unruhige Wärme, die sich wie eine Warnung anfühlte.

"Hörst du das?" Leana neigte den Kopf. Der Klang hatte sich verändert. Tiefer. Schwerer. Als stiege aus dem Innersten des Berges ein zweiter, dunklerer Ton empor. Ein Grollen, das den Felsen selbst zu zerreißen drohte, und in ihm ein leises Wimmern, das Jonas bis in die Knochen ging.

Jonas trat näher an den Rand. Die Felsen unter seinen Füßen vibrierten sacht, als würde ein riesiger Herzschlag aus dem Berginneren pulsieren.

Dann bebte die Erde. Nicht heftig – eher wie ein Erwachen. Ein stummes Recken und Strecken eines Wesens, das lange geschlafen hatte. Vom Tal herauf zog ein ferner Klang, tief wie Donner, doch rhythmisch wie ein alter Gesang. Die Vögel verstummten. Selbst das Wasser hielt kurz inne, als lausche es. Eine beängstigende Stille legte sich über das Land, gefolgt von einem knirschenden Geräusch, als würde die Welt selbst zerbrechen.

Plötzlich schälte sich aus den Felswänden unterhalb der Burg etwas heraus. Kein Stein – keine Statue – sondern ein Arm. Massiv, aus Fels und doch lebendig. Moos fiel herab, Wurzeln rissen, und langsam erhob sich eine Gestalt aus dem Gestein selbst. Die reine, unermessliche Kraft dieses Erwachens ließ die Luft knistern, und Leana rang nach Luft.

Ein Riese. Nicht in bedrohlicher Gestalt, sondern mit Augen, die wie Seen im Morgenlicht glänzten – alt, traurig, wissend. Seine Glieder waren eins mit dem Fels, durchzogen von Adern aus Kupfererz, und sein Bart bestand aus hängenden Farnen. Doch hinter der Trauer lag eine unbestimmte Drohung, ein tief sitzender Zorn, der wie Lava unter der Oberfläche brodelte.

Jonas und Leana wagten kaum zu atmen.

Der Riese richtete sich nicht ganz auf. Er blieb halb aus dem Berg herausragend – wie ein Wächter, der nicht mehr über das Land wandern, aber dennoch in ihm verweilen konnte.

Dann sprach er. Nicht mit Worten, sondern mit Bildern, die sich direkt in Herz und Geist der beiden legten: Er zeigte ihnen die Zeit, in der die Riesen über das Land wachten, den Kindern halfen, die Winde lenkten und das Wasser rein hielten. Dann kam der Bruch. Der Bau der Burg. Die Menschen, die nicht sahen, was sie taten. Die Riesen wurden zu Stein – nicht aus Rache, sondern um zu bewahren, was noch heil war. Die Bilder waren klar, unerbittlich, und Jonas sah die Gesichter der "Gierigen Herzen" aus dem Waldgeist-Bündnis in den Schatten der Burgmauern aufblitzen.

Der Riese neigte den Kopf leicht. "Ihr habt uns erinnert", sprach seine Stimme wie Grollen im Gestein. "Ihr habt gesehen. Gefühlt. Geprüft. Und nun beginnt es von Neuem. Aber der Weg ist schmal, und viele werden versuchen, ihn zu verschließen."

Leana trat einen Schritt vor. "Was beginnt von Neuem?"

Der Riese lächelte, ein langsames, steinernes Lächeln, das wie das Schmelzen von Wintereis wirkte. "Das Band. Zwischen euch und uns. Zwischen Erde und Traum. Zwischen Tun und Wissen."

Jonas nickte. "Wir erzählen eure Geschichte. Damit sie nicht wieder vergessen wird."

Langsam zog sich der Riese wieder zurück. Moos bedeckte seine Gestalt. Gestein schloss sich über seinen Schultern. Doch seine Augen blieben – wie zwei leuchtende Smaragde, tief im Fels, wachend. Wachend und urteilend. Und Jonas spürte, dass der Riese nicht nur sie beobachtete, sondern auch auf ihre Taten wartete.

Der Wasserfall rauschte erneut, nun heller, klarer – als wäre etwas gelöst worden, das lange gestaut war. Doch die Klarheit barg auch die Gewissheit, dass die Zeit des Versteckspiels vorbei war und die Konfrontation nun offen beginnen würde.

Und so standen Jonas und Leana lange schweigend dort, den Blick auf die Berge gerichtet. Denn sie wussten: Das Märchen war nicht zu Ende. Es begann gerade erst.


© 14.08.2018 Gerd Groß (mehrfach überarbeitet bis Mai 2025)  

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