Das Geheimnis der Burg Nideck

Kapitel 22



Das Flüstern der Steine

Der Pfad führte Jonas und Leana tiefer in die Felsenlandschaft, wo der Wind zu schweigen schien und nur das leise Knirschen der Steine ihre Schritte begleitete. Die Sonne senkte sich, und lange Schatten legten sich wie stille Wächter über die zerklüfteten Klippen. Ein Gefühl der Beklemmung legte sich über sie, als würden die Felsen selbst sie beobachten.

Am Rand einer uralten Höhle blieb Leana stehen. Ein kaum hörbares Flüstern schien aus dem dunklen Schlund zu dringen, als wollten die Steine selbst zu ihnen sprechen. Jonas spürte, wie sich eine geheimnisvolle Kraft in der Luft spannte, schwer von Geschichten, die in den Tiefen verborgen lagen. Geschichten von Verrat und einem tief sitzenden Schmerz.

Langsam traten sie ein, und die Höhlenwände schimmerten sanft im Licht ihrer Fackeln. Plötzlich erschien eine Gestalt, geformt aus rauem Fels und funkelnden Kristallen – der Steinwächter, Hüter des Berges und der Erinnerung. Seine Präsenz war erdrückend, seine Augen strahlten eine uralte, unerbittliche Weisheit aus.

Seine Stimme klang tief und ehrwürdig, wie das Echo längst vergangener Zeiten: "Wer das Gleichgewicht sucht, muss das Flüstern der Steine hören. Was ist alt und doch lebendig? Was bewahrt die Zeit, ohne zu vergehen?" Die Frage war ein direkter Angriff auf ihr Verständnis der Welt.

Leana lauschte und sprach dann mit zögernder Ehrfurcht: "Es sind die Erinnerungen – in jedem Stein, in jedem Riss, in jedem Herz."

Der Steinwächter neigte sein Haupt, und die Kristalle an seinen Schultern funkelten wie Sterne. "Weisheit liegt in der Erinnerung, und Erinnerung nährt das Leben. Doch hüte dich vor dem Gewicht der Vergangenheit, das dich niederdrücken kann. Manchmal muss man die Vergangenheit loslassen, um die Zukunft zu retten – selbst wenn es schmerzt."

Mit einem leisen Grollen verschmolz die Gestalt zurück mit der Höhle, und das Flüstern verstummte. Doch das Gewicht seiner Worte blieb im Raum hängen.

Jonas und Leana traten hinaus ins Zwielicht, erfüllt von neuer Erkenntnis. Der Pfad vor ihnen war steinig, doch ihr Herz war bereit, das Erbe der Zeit anzunehmen. Sie wussten, dass die letzte und vielleicht schmerzhafteste Prüfung noch bevorstand.


© 14.08.2018 Gerd Groß (mehrfach überarbeitet bis Mai 2025)  

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