Das Geheimnis der Burg Nideck

Kapitel 2


Begegnung im Zwielicht

Der Wald um dich herum wandelt sich still und lautlos. Das Licht wird schwächer, verblasst wie ein alter Traum, während die Schatten zwischen den Bäumen zu tanzen beginnen – langgezogen, wie Erinnerungen aus einer anderen Zeit. Du hast das Gefühl, als ob die Zeit selbst den Atem anhält – oder bist du es, der langsamer wird, wie von einer unsichtbaren Macht gehalten? Einer Macht, die sich nun zu manifestieren scheint.

Vor dir tritt eine Gestalt aus dem Dämmerlicht: nicht so seltsam und wundersam wie das Riesenmädchen, aber auch nicht ganz gewöhnlich. Ein junger Mann, schlicht gekleidet, das Leinen seiner Tunika von Erde und Arbeit gezeichnet – ein Sohn des Landes. Doch seine Augen erzählen eine andere Geschichte: wachsam, tief, und voller unausgesprochener Fragen – die dich zu durchdringen scheinen.

"Du suchst also das Geheimnis der Burg Nideck", sagt er, als hätte er die Worte aus deinem Herzen gehoben. "Ich heiße Jonas. Und du?"

Seine Stimme klingt ruhig, fast alt. Nicht vom Alter her, sondern vom Wissen – als spreche jemand, der mehr gesehen hat, als seine Jahre verraten. Du spürst eine Verbindung, flüchtig wie der Duft von feuchtem Moos – und zugleich eine Distanz, wie zwischen zwei Flussufern. Jonas wirkt geerdet, mit den Füßen fest im Gras, doch der Blick in den Nebel gerichtet – als trüge er ein altes Wissen, das sich nicht sofort offenbart.

"Bist du hier, um die alten Geschichten zu bewahren… oder um sie zu zerstören?" fragt er dich, leise, beinahe wie ein Windhauch, während seine Augen dich mustern wie ein ungeschriebenes Buch.

Und plötzlich weißt du: Diese Frage ist mehr als nur Worte. Sie ist eine Schwelle. Was du antwortest – was du fühlst – wird nicht nur das Gewebe dieser Geschichte verändern, sondern auch dein eigenes Schicksal besiegeln.

Am Rand des Weges steht das Riesenmädchen, lehnend an einem knorrigen Baum, der wie ein uralter Wächter wirkt. Sie schweigt, doch ihr Blick ruht auf dir. Nicht prüfend – eher erwartend.

Was wirst du tun? Wirst du Jonas vertrauen und mit ihm weitergehen – den Weg des Zweifels, aber auch des Wissens wagen? Oder schlägst du deinen eigenen Pfad ein – und hörst nur auf das Flüstern des Waldes, das vielleicht nur für dich spricht und dich in eine ungewisse Zukunft führt?


© 14.08.2018 Gerd Groß (mehrfach überarbeitet bis Mai 2025)  

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