Das Geheimnis der Burg Nideck
Kapitel 14
Das Flüstern des Steins
Die alten Stufen knarren leise unter den Füßen der Wanderer, Moos umhüllt die brüchigen Steine, als hielten sie Geheimnisse, die nur der Stein erzählen kann. Folgt mir, denn was sie betreten, ist nicht einfach eine Burg – es ist ein Ort, an dem die Zeit atmet und Erinnerungen flüstern. Erinnerungen, die nun zum Leben erwachen und einen hohen Preis fordern könnten.
Jonas und Leana schreiten schweigend durch das große Tor, das knarrend den Eingang freigibt. Der kühle Wind vom Wasserfall spielt mit den Spitzen ihrer Haare, trägt das uralte Raunen mit sich.
Die Burg scheint leer, doch wer lauscht, wird spüren, dass sie lebendig ist – nicht durch Menschen, sondern durch das, was zurückblieb: Geschichten, Versprechen, verdrängte Träume. Träume, die zu Albträumen werden können, wenn man sie nicht ehrt.
Ein kaltes Raunen weht durch den großen Saal, wo einst Feuer loderten. Dort, in den Mauern, steckt ein Flüstern, kaum hörbar, aber beständig – es tanzt in den Ritzen, erzählt von Anbeginn. Und es erzählt von einer Ungerechtigkeit, die nach Wiedergutmachung schreit.
An der Wand entdeckt Jonas eine kleine Inschrift, ein Kreis durchbrochen von einer feinen Linie. Kein bloßes Zeichen, sondern eine Botschaft, die tief im Stein ruht – ein Ruf an jene, die sehen und verstehen. Ein Ruf, der Jonas' Schicksal nun unweigerlich mit dem der Riesen verbindet.
"Die Menschen kamen, um zu herrschen," sagt Leana, "doch die Riesen kamen, um zu spielen. Beides konnte nicht zugleich bestehen."
Sie schaut hinaus auf das Tal, auf die Stelle, wo einst ein heiliger Hain stand – voll uralter Bäume und Magie, längst genommen von denen, die das Spiel nicht mehr kannten. Ein Frevel, dessen Wunden noch immer bluteten.
"Sie nahmen ihnen ihr Land, ihre Träume, das Spielzeug der Kindheit," flüstert sie weiter. "So zogen sich die Riesen zurück. Nicht besiegt, nur wartend." Wartend auf den richtigen Moment, um zurückzuschlagen.
Spürt ihr, wie die Burg mehr ist als Stein und Holz? Sie ist Erinnerung und Versprechen zugleich – ein Ort, der wachsam ist, bis die Zeit der Wandlung kommt. Eine Wandlung, die auch Zerstörung mit sich bringen kann.
"Du hast gesehen, Jonas," haucht Leana, "du bist Teil dieses Spiels, ob du es willst oder nicht. Und das Spiel hat gerade erst begonnen, mit dir als Einsatz."
Draußen wird das Rauschen des Wasserfalls lauter, die Schatten der Mauern länger. Hier, im Flüstern des Steins, beginnt das Neue – und mit ihm das Erwachen. Ein Erwachen, das das Tal für immer verändern wird.
© 14.08.2018 Gerd Groß (mehrfach überarbeitet bis Mai 2025)