Das Geheimnis der Burg Nideck
Kapitel 13
Der Blick vom Wasserfall
So liegt der Morgen oft über solchen Tälern: schwer, als habe die Zeit selbst sich in einen frostigen Schlaf gelegt. Wenn ihr nun mit mir dorthin wandert, spürt ihr die Nebelschleier, die sich wie geisterhafte Finger durch die Baumwipfel winden – kalt, feucht, und zugleich so, als bewahrten sie ein uraltes Geheimnis. Es ist ein Geheimnis, das nicht jeder hört, nicht jeder sieht, doch vielleicht spürt ihr es mit jenem stillen Teil in euch, der auf das Flüstern der Welt hört. Ein Flüstern, das nun lauter wird und eine dringende Warnung in sich trägt.
Jonas war früh erwacht, getrieben von einem Drängen, das mehr war als bloße Erinnerung oder Wille – ein Flüstern aus der Tiefe, das sich nur den Auserwählten zeigt. Sein Pfad war kaum mehr als ein Schatten im Dickicht, ein schmaler Riss im grünen Schleier des Waldes, den nur jene sehen, die suchen. Und die nicht fürchten, was sie finden könnten.
Vor ihm öffnete sich der Wald plötzlich zu einem Schauspiel: Der Nidecker Wasserfall, wild und ungezähmt, stürzte wie ein kalter Stahlvorhang in die Tiefe. Der Fels, auf dem er stand, war ein uraltes Zeugnis, geschliffen von erbarmungslosen Wassern und vergessener Zeit.
Über ihm ragte die Burg Nideck, düster, drohend – eine Feste aus Stein, die wie ein Wächter das Tal umfing. Doch dieser Wächter war korrumpiert, ein dunkles Herz, das langsam das Land aussaugte. Düstere Schatten verschlangen das spärliche Licht, die Türme schienen die bleigrauen Wolken zu durchbohren.
Wenn ihr genau hinhört, werdet ihr das Raunen hören, das in den Nebeln tanzt, und vielleicht eine Gestalt erahnen – das Riesenmädchen, nicht sichtbar für die Augen, aber deutlich für jene, die mit dem Herzen sehen. Und es ist nicht nur ein Anblick, sondern eine tiefgreifende Aufforderung.
"Wenn sie vergessen, dass alles Spiel ein Ernst ist – erwachen wir wieder", hallte es in Jonas' Gedanken, schwer und ernst wie ein Fluch. Ein Fluch, der sich nun zu erfüllen drohte.
Der Wasserfall ist mehr als nur Natur. Er ist Grenze und Schwelle, ein Tor, wo das Verborgene sich regt und droht, zurückzukehren. Und niemand konnte sagen, ob diese Rückkehr Rettung oder Verderben bringen würde.
Ein Rascheln hinter ihm: Leana tritt hervor, ihr Blick so klar wie das Eis. "Du bist gekommen, um zu sehen", flüstert sie. "Doch sag mir, was wirst du tun, wenn das Verborgene dich ansieht? Wenn es von dir eine Entscheidung fordert, die alles verändern wird?"
Jonas schaut zur Burg, zum wilden Tal – das Herz schlägt weiter, zwischen Leben und Tod. Ein Herzschlag, der nun lauter und schneller wird, während die Zeit drängt.
© 14.08.2018 Gerd Groß (mehrfach überarbeitet bis Mai 2025)