Das Geheimnis der Burg Nideck

Kapitel 11


Der Ruf des Nebels

Die Nebel kehrten zurück. Nicht als flüchtige Schleier des Morgens, geboren aus Tau und vertrieben von der Sonne. Nein – diese Nebel trugen Willen, eine Stimme, eine Präsenz, die durch Haut und Mark kroch und deine tiefsten Ängste zu wecken schien, ein Versprechen von dem, was in ihrem Inneren verborgen lag.

Jonas stand am Rand eines schmalen Hochpfades, der sich oberhalb der alten Eichenhöfe wand. Unter ihm lag das Tal verborgen, eingehüllt in wallende Schwaden, die sich wie lebendige Wesen um Felsen und Bäume wanden. In ihrem Nebel hallte ein Laut – kaum hörbar, doch tief: ein Ruf, uralt und drängend, wie ein Flüstern aus Zeiten, da Menschen noch keine Namen kannten. Ein Ruf, der keine Widerrede duldete.

Leana trat zu ihm. Auch sie spürte es – nicht mit den Ohren, sondern mit dem Herzen.

"Es ist, als rief uns etwas zurück... dorthin, wo alles begann," hauchte sie.

"Zur Quelle," murmelte Jonas. "Dorthin, wo das Riesenmädchen einst schlief."

Und so begaben sie sich hinab ins Nebelreich, geführt allein von ihrer inneren Gewissheit. Die Wälder wurden stiller – nicht leer, sondern lauschend. Tiere zeigten sich nicht, doch ihre Spuren waren frisch. Irgendetwas wartete. Und es war nicht bloß Natur, nicht nur Erinnerung. Es war eine Macht, die sich nun offenbarte.

Bei einem alten Stein, der wie ein Tor aus Moos und Zeit ragte, blieben sie stehen. Dort saß – wie aus Nebel geboren – das Riesenmädchen. Ihre Augen spiegelten das Licht nicht, sie fingen es ein und schickten es verwandelt zurück. In ihrer Hand hielt sie das zerbrochene Rad, das Jonas einst gefunden hatte. Nun war es ganz – zusammengesetzt aus Licht, Holz und etwas, das älter war als beides.

"Ihr habt den Ruf vernommen," sprach sie. "Die Zeit der Wunde endet. Die Zeit der Prüfung beginnt. Eine Prüfung, die alles von euch fordern wird und deren Ausgang das Schicksal dieses Landes besiegelt."

Und plötzlich wurde Jonas und Leana klar, dass ihr Weg nicht allein zurückführte, sondern mitten hinein ins Herz der Entscheidung – zwischen Bewahren und Vergessen, zwischen Mensch und Erde, zwischen Macht und Maß.

"Der Nebel führt nicht in die Irre," sagte das Riesenmädchen, "er verbirgt nur, was die Augen nicht mehr sehen wollen. Und manchmal ist das, was man nicht sehen will, das Gefährlichste."

So begann ein neuer Teil der Reise – tiefer, dunkler, doch klarer als je zuvor. Und jeder Schritt führte sie näher an den Abgrund oder die Rettung.


© 14.08.2018 Gerd Groß (mehrfach überarbeitet bis Mai 2025)  

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