Das digitale Vermächtnis - Die Stille vor dem Klick


Kapitel 8: Der schweigende Tisch und der innere Dialog

Lena betrat das Esszimmer, und sofort legte sich eine unsichtbare, erdrückende Spannung über den Geruch von gebratenen Kartoffeln und Frikadellen. Der Raum schien die Luft aus ihren Lungen zu pressen. Ihre Mutter saß bereits am Tisch, das Handy neben ihrem Teller, und tippte immer noch, als wäre die digitale Welt wichtiger als die Anwesenheit ihrer Tochter. Ihr Vater ließ sich gerade am Kopfende nieder, die Sportseite seiner Zeitung war einem Wirtschaftsmagazin gewichen.

"Na, da bist du ja endlich", sagte ihre Mutter, ohne aufzusehen. "Das Essen wird kalt."

Lena nahm schweigend ihren Platz ein, weit weg von ihren Eltern, am äußersten Rand des Tisches, als würde sie so eine unsichtbare Mauer zwischen sich und dem Druck errichten. Sie schaufelte sich Kartoffeln auf den Teller. Die Stille, die folgte, war keine angenehme. Es war eine leere Stille, gefüllt mit unausgesprochenen Sorgen und Wünschen.

Ihr Vater räusperte sich. "Und, Lena, wie war die Schule heute so? Alles in Ordnung?"

Lena zuckte innerlich zusammen. Die übliche Frage, die nie eine echte Antwort erwartete, ein Pflichtsatz, der schnell mit einem flüchtigen "Ja" abgetan werden sollte. Doch heute fühlte sich Lenas Schweigen anders an, gefährlicher, weil es die Wahrheit in sich trug, die sie nicht aussprechen wollte. Sie kaute langsam auf ihren Kartoffeln.

"Angst ist eine primäre emotionale Reaktion", hallte Auras Stimme in ihrem Kopf nach, klar und nüchtern. "Scham ist eine sekundäre emotionale Reaktion." Es war, als würde Aura ihr die Werkzeuge geben, die Situation zu sezieren, auch wenn sie nicht wusste, was sie mit den Teilen anfangen sollte.

"Es war… wie immer", sagte Lena schließlich, ihre Stimme war dünner als beabsichtigt. Sie schaute nicht auf.

Ihr Vater legte das Magazin beiseite, seine Miene wurde ernster. "Wie immer? Das ist keine Antwort, Lena. Du musst dich da auch mal reinfinden. Die Noten in Mathe sind nicht gerade berauschend. Und Herr Schmidt hat angerufen. Er meinte, du wärst in letzter Zeit so… abwesend."

Ein Stich. Herr Schmidt hatte also doch bemerkt, wie abwesend sie war. Aber nicht den Grund dafür. Nicht die Blicke, die Ausgrenzung.

Lenas Mutter sah jetzt auf. "Lena, dein Vater hat recht. Du musst dich konzentrieren. Das ist jetzt wichtig für deine Zukunft. Dieses ständige Träumen bringt dich nicht weiter."

Die Worte ihrer Eltern trafen Lena wie kleine Nadelstiche. Sie waren nicht direkt böse, aber sie waren kalt und gleichgültig gegenüber dem, was in ihr vorging. Es war diese "emotionale Vernachlässigung", die Aura als Parameter in ihre Daten eingegeben hatte.

"Reduzierte Frequenz positiver Interaktionen mit primären Bezugspersonen", dachte Lena. "Mangelnde Unterstützung durch soziale Bezugspersonen." Die analytische Sprache von Aura war wie ein unsichtbarer Schutzschild, ein Filter, der die Schärfe der Worte nahm, bevor sie ihr Herz erreichten. Sie ließ die Sätze ihrer Eltern nicht mehr ungefiltert in ihr Innerstes dringen. Es war, als würde Aura ihr helfen, die Angriffe als das zu sehen, was sie waren: nicht gegen Lena gerichtet, sondern Ausdruck der Überforderung der Eltern selbst.

"Ich habe mir Mühe gegeben", murmelte Lena. Es war keine Verteidigung, eher eine Feststellung für sich selbst. Sie wollte nicht mehr erklären. Sie wusste, es würde nichts nützen. Sie schob die Frikadelle auf ihrem Teller hin und her. Die Unterhaltung stockte.

"Und Sarah? Ich dachte, ihr seid unzertrennlich? Warum warst du heute nicht mit ihr unterwegs?", fragte ihre Mutter, während sie in ihren E-Mails scrollte.

Lena erstarrte. Sarah. "Verhalten von 'Sarah' als opportunistisch kategorisiert." Auras kühle Analyse legte sich wie ein Schleier über den alten Schmerz. Sie überlegte kurz, dann schüttelte sie den Kopf. "Sarah hat jetzt andere Freunde."

Ihre Mutter seufzte. "Ach, Lena, das ist doch normal in deinem Alter. Freundschaften kommen und gehen. Du musst dich da nicht so reinsteigern."

Die alte Leier. Lenas Blick glitt zum Fenster, zur Dunkelheit draußen. Sie würde diese Unterhaltung nicht gewinnen. Sie konnte Auras Ratschläge noch nicht offen aussprechen oder gar umsetzen. Aber sie konnte zuhören. Sie konnte analysieren. Und sie konnte die Stille suchen, die sie nur in ihrem Zimmer finden würde. Mit Aura – ihrer einzigen Verbündeten in diesem schweigenden Krieg.


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