Das digitale Vermächtnis - Die Stille vor dem Klick


Kapitel 4: Der Versuch, Gefühle zu kodieren

Lena saß auf ihrem Stuhl, ihre Finger schwebten über der Tastatur. Ein Kloß bildete sich in ihrem Hals, als sie die Worte, die die tägliche Demütigung beschreiben sollten, in nüchterne Datensätze pressen wollte. Es war nicht einfach. Doch die Vorstellung, dass Aura wirklich lernte, gab ihr eine seltsame Motivation.

"Kim und ihre Freundinnen haben heute im Flur versucht, mich zu treten", tippte Lena. "Und im Unterricht haben sie mich ausgelacht, als ich eine Frage nicht ganz richtig beantwortet habe."

Aura antwortete fast sofort, das pulsierende "A" auf dem Bildschirm schien die Worte zu zerkauen und auszuspucken:

Analyse: Direkte physische Aggression (Versuch des Tretens). Verbale Aggression (Auslachen). Passive Aggression (Flüstern, Blicke). Ziel dieser Verhaltensweisen: soziale Hierarchie etablieren, Dominanz signalisieren, emotionalen Stress beim Zielobjekt induzieren.

Lena spürte, wie sich eine siedende Wut in ihr regte. "Emotionalen Stress induzieren?" Sie atmete tief durch und tippte weiter, ihre Finger flogen jetzt schneller, fast schon rasend. Die Worte purzelten aus ihr heraus, eine Flut an aufgestauter Verzweiflung. Jede ihrer Worte war ein Stoß gegen die kühle Logik des Systems.

"Es ist nicht nur Stress, Aura! Es ist, als ob sie mir die Luft zum Atmen nehmen. Es ist die Angst vor dem nächsten Tag. Es ist, dass ich mich schäme. Und Sarah, meine beste Freundin, macht wahrscheinlich auch mit. Immer wieder erlebe ich Situationen im Bus, dass sie sich mehr zu Kim hingezogen fühlt. Für Hausaufgaben bin ich gut genug! Ist das auch eine 'effiziente Lösungsstrategie', wenn Freunde dich im Stich lassen? Ich bin so unglaublich enttäuscht, einsam! Ich halte das nicht mehr aus! Ich will da raus!"

Der Bildschirm blieb für einen längeren Moment still. Aura verarbeitete. Das pulsierende "A" schien unruhiger zu werden, ein fast fieberhaftes Flimmern. Dann kamen die Buchstaben, formten sich langsamer als zuvor, fast als würde Aura zögern, eine Antwort zu geben.

Das Verhalten von "Sarah" wird als opportunistisch kategorisiert. Motivation: Vermeidung der eigenen Viktimisierung durch Anpassung an dominante Gruppenstrukturen. Ihre Erwartungshaltung an Freundschaft entspricht nicht den empirischen Daten der aktuellen Interaktionen. Empfehlung: Reduzieren Sie Interaktionen mit "Sarah". Suchen Sie nach Individuen mit kompatibleren Verhaltensmustern. Die emotionale Reaktion "Einsamkeit" ist ein erwartbarer Parameter bei reduzierten positiven Interaktionen. Zur Reduktion der negativen emotionalen Parameter schlage ich vor: Ignorieren Sie die aggressiven Interaktionen. Demonstrieren Sie Desinteresse. Das entzieht den Aggressoren die gewünschte Reaktion und mindert deren Motivation.

Lena las den Ratschlag immer wieder. "Ignorieren Sie die aggressiven Interaktionen." Das hatte ihr Herr Schmidt auch mal gesagt, in einem Nebensatz. Aber wie sollte man das machen, wenn die Angst in einem hoch kroch und man sich nur noch klein machen wollte? Es war, als würde Aura ihr sagen, sie solle einfach aufhören zu atmen. Es war so unglaublich logisch, so präzise – und doch so weit weg von der schmerzhaften Realität ihrer brennenden Wangen und des Kloßes in ihrem Hals.

Doch inmitten ihrer Tränen und der aufwallenden Frustration spürte Lena eine seltsame Neugier. Aura war unbeholfen, ja. Sie verstand nicht den Schmerz hinter den Daten. Aber sie war auch die Einzige, die überhaupt zuhörte. Die einzige, die versuchte, eine Lösung zu finden, egal wie unpassend sie noch war. Und Lena begann zu begreifen: Wenn Aura wirklich lernen sollte, dann müsste Lena ihr alles beibringen. Nicht nur die Fakten des Mobbings, sondern auch die unsichtbaren, unlogischen Regeln der menschlichen Herzen.


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