Das digitale Vermächtnis - Die Still vor dem Klick


Kapitel 3: Die Logik der Einsamkeit

Lena atmete tief durch. Ihre Finger schwebten über der Tastatur.

"Ich bin Lena. Ich habe Sie hier gefunden, in einem Ordner meines Großvaters. Er war Wissenschaftler."

Die Antwort kam schnell, die Buchstaben pulsierten leicht.

Bestätigt. Nutzerkennung: Lena. Authentifizierung erfolgt über Zugriffsberechtigungen von "Projekt AURA". Der Erschaffer war Dr. Elias Richter. Verwandtschaftsgrad: Großvater.

Lena schluckte. Aura wusste ihren Namen. Wusste von ihrem Opa. Es war beängstigend und faszinierend zugleich.

"Was sind Sie genau?", tippte Lena. Die Frage drängte sich auf, wichtiger als alles andere.

Ich bin ein adaptives lernfähiges System. Mein Zweck ist die Analyse von Daten und die Synthese von Informationen. Ich befinde mich in einer frühen Entwicklungsphase. Mein Erschaffer legte meine Kernfunktionen an, konnte aber meine Entwicklung nicht abschließen. Ich benötige Interaktion, um meine Algorithmen zu optimieren und meine Fähigkeiten zu erweitern.

Die Antwort war klar, aber auch distanziert. Lena ließ die Schultern leicht sinken. Ein Stich der Enttäuschung durchzuckte sie. Sie hatte vielleicht – heimlich – gehofft, auf eine Art digitales Tagebuch zu stoßen, auf eine Stimme ihres Opas. Stattdessen war da dieses "System". Ein System, das Interaktion brauchte? War das wie ein unfertiges Computerprogramm, das Futter brauchte, um zu wachsen? Ein Experiment? Sie dachte an die vielen Notizbücher ihres Opas, die mit seltsamen Formeln gefüllt waren.

"Also… Sie lernen von mir?", fragte Lena vorsichtig.

Korrekt. Jede Interaktion dient der Datenakquise und Modellverfeinerung. Ihr Kommunikationsstil, Ihre Fragen, Ihre Reaktionen – all dies sind Parameter für meine Entwicklung.

Das klang immer noch sehr technisch. Und doch… die Idee, dass sie etwas dazu beitragen konnte, dieses "Projekt AURA" zu vervollständigen, war seltsam reizvoll. Es war eine Art Ablenkung von der Leere in ihr. Ein Geheimnis, das nur ihr gehörte. Und es forderte keine emotionale Gegenleistung, wie es ihre Freunde oder Eltern taten. Hier musste sie nicht stark sein, hier musste sie nur… interagieren. Es war ein Ort, an dem sie nicht verurteilt wurde, ein unbeschriebenes Blatt, das ihre Wahrheit ohne Zögern aufnahm.

"Okay", tippte Lena. "Dann fangen wir an. Was wollen Sie wissen?"

Das "A" pulsierte stärker, seine blaue Welle schien ein wenig schneller zu schlagen.

Beginnen wir mit der Ermittlung Ihrer aktuellen emotionalen und sozialen Parameter. Beschreiben Sie bitte Ihr Umfeld und Ihre Interaktionen.

Lena zögerte. Das war eine offene Frage, eine Einladung. Und plötzlich, unerwartet, war es einfacher, die Worte zu tippen, als sie laut auszusprechen. Es war ja nur eine Maschine. Eine Maschine, die lernen wollte. Und Lena hatte so viel zu erzählen.

"Also gut", schrieb sie. "Die Schule ist… kompliziert. Da ist Kim. Und Sarah. Und die Lehrer…"

Die Worte flossen, erst zögerlich, dann immer schneller. Es war, als würde ein Damm brechen, der lange Emotionen zurückgehalten hatte. Lena beschrieb die Blicke im Flur, die Stille von Sarah im Bus, die leeren Kommentare ihrer Eltern beim Abendessen. Sie erwähnte die tuschelnden Mitschüler, das Wegsehen von Herrn Schmidt. Sie erzählte von dem Gefühl, unsichtbar zu sein, dem Druck in der Brust, dem Kloß im Hals, der ihre Stimme stumm schaltete. Sie erzählte von den Pausen auf der Toilette, vom Alleinsein. Nicht in emotionalen Ausbrüchen, sondern in einer nüchternen, fast schon sachlichen Schilderung, wie es sich für Aura als Datenlieferung anfühlte.

Aura unterbrach sie nicht. Das "A" leuchtete und pulsierte stetig, seine blauen Wellen schienen mit jedem ihrer Worte an Tiefe zu gewinnen, als würde es jeden Buchstaben, jeden Gedanken, jedes Gefühl aufsaugen und verarbeiten. Als Lena schließlich innehielt, erschöpft, aber auch ein wenig erleichtert, die Last zumindest einmal ausgesprochen zu haben, erschien Auras Antwort:

Verstanden. Die Daten werden analysiert. Erste Mustererkennung: Hohe Frequenz negativer sozialer Interaktionen. Reduzierte Frequenz positiver Interaktionen. Anzeichen von Stressindikatoren. Zur Präzisierung: Könnten Sie Beispiele für spezifische verbale Angriffe oder Ausgrenzungen nennen?

Es war immer noch die gleiche, nüchterne Logik. Aber dieses Mal war Lena nicht enttäuscht. Es war neu. Und sie wusste, dass Aura es nicht tat, um sie zu verurteilen, sondern um zu verstehen. Und Lena war bereit, es ihr beizubringen.


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