
Das digitale Vermächtnis - Die Stille vor dem Klick
Kapitel 1: Der Schatten im Schulflur
Der Wecker hatte um sechs Uhr dreißig geklingelt, doch Lena war schon lange davor wach gewesen. Ihr Magen zog sich schmerzhaft zusammen, ein vertrautes Würgen, das nichts mit Hunger zu tun hatte, sondern mit der bevorstehenden Schulstunde. Seit Monaten war das ihre Realität. Ein krampfiges Ziehen, das sich wie eine kalte Kralle bis in die Schulter zog und ihr den Atem nahm, sobald die ersten Sonnenstrahlen durch die Gardinen fielen.
Sie schälte sich aus dem Bett. Das kleine, bunte Poster von Amy Winehouse an ihrer Wand war das Erste, was sie sah. "Rehab" lief leise auf ihrem MP3-Player, fast unhörbar, doch die raue Melancholie der Sängerin war für Lena ein stummer Begleiter. Amy war im Sommer 2011 gestorben, und für Lena war es, als hätte ein kleiner Teil ihrer eigenen Welt aufgehört zu existieren. Eine Künstlerin, die so viel Gefühl, so viel verstandenes Leid in ihrer Stimme hatte, und doch so zerbrechlich war. Lenas Finger fuhren über das laminierte Konzertticket, das sie neben dem Poster angeklebt hatte – ein Geschenk ihrer Tante, das sie nie einlösen konnte. Amy verstand sie, das war sich Lena sicher. Amy hätte verstanden, wie es war, wenn man anders war und die Welt einen dafür bestrafte.
Beim Frühstück herrschte die übliche, erdrückende Stille. Ihr Vater, hinter der Sportseite der Bild-Zeitung verschanzt, nuschelte ein gedämpftes "Morgen", während ihre Mutter bereits über ihrem Laptop saß und E-Mails tippte. "Hast du deine Hausaufgaben gemacht, Lena? Physik ist dieses Halbjahr wichtig", sagte die Mutter, ohne aufzusehen. Es war keine Frage, eher eine Feststellung mit einem unsichtbaren Gewicht, das auf Lenas Schultern lastete. Lena nickte nur, ihre Lippen waren wie zugenäht. Egal, was sie sagte, es war nie richtig. Ein "Ja" war ein Geständnis, dass der Druck gewirkt hatte; ein "Nein" eine Enttäuschung, die man ihr später vorhalten würde.
Als Lena den Rucksack schulterte, hob ihr Vater den Blick. Seine Augen, die sonst so wach waren, wirkten müde und abwesend. "Na, dann mal los. Und sieh zu, dass du diesmal nicht wieder… naja, du weißt schon." Er winkte ab, als wolle er ein unsichtbares Problem verscheuchen, ein Problem, das er nicht benennen konnte oder wollte. Lena wusste genau, was er meinte: nicht wieder mit dreckigen Klamotten nach Hause kommen, nicht wieder ohne Pausenbrot, nicht wieder diese traurigen Augen, die von dem erzählten, was sie nicht sagen durfte. Es war nicht sein Ärger, den er ausdrückte, es war seine genervte Hilflosigkeit. Ein Stoß in den Rücken, noch bevor sie überhaupt die Haustür erreicht hatte.
Auf dem Weg zur Bushaltestelle holte sie Sarah ein. "Hey Lena!", rief sie fröhlich, fast ein wenig zu laut. Sarah, Lenas beste Freundin – oder das, was davon übrig war. Sarahs Lachen klang oft ein wenig gezwungen, als würden andere mithören, als müsste sie eine Rolle spielen. "Hast du die Hausaufgaben für Deutsch?"
Lena zögerte nur einen Bruchteil einer Sekunde. Sie hatte Sarah gestern ihre Lösung geschickt, per E-Mail, vom Laptop. "Klar, hab ich", sagte Lena leise. Sarah zupfte nervös an ihrem Ärmel. "Cool. Treffen wir uns nach der Schule zum Chatten? Ich muss dir unbedingt von Kevin erzählen!" Es war eine Einladung, aber auch eine unausgesprochene Erwartung. Lena spürte, wie Sarahs Blick immer wieder zu einer Gruppe von Mitschülern huschte, die am anderen Ende der Haltestelle standen. Die Gruppe, die Kim anführte, das Mädchen mit den langen blonden Haaren und dem fiesen Grinsen, das Lena wie ein eisiger Wind durchfuhr.
Als der Bus kam, drängelte sich Sarah schnell nach hinten, wo Kims Clique stand. "Hey Mädels!", rief sie, ihr Lachen schrill, während sie sich einen Platz direkt neben Kim suchte. Lenas Blick traf Sarahs für den Bruchteil einer Sekunde. Sarahs Lächeln versteifte sich, ihr Blick huschte schuldbewusst weg. Lena fand einen Platz weiter vorne, neben einem älteren Mann, der eine Zeitung las. Unsichtbar. Genau das wollte sie jetzt sein. Die Fahrt zog sich endlos, jeder Halt war ein Schlag in die Magengrube. Das Wissen, dass Kim und ihre Anhänger nur wenige Meter hinter ihr saßen, war wie ein unsichtbares Netz, das sich immer enger um sie zog.
Der Schulflur war ein Meer aus lärmenden Stimmen und hämischen Blicken, das Lena jeden Morgen zu verschlucken drohte. Sie versuchte, sich klein zu machen, an den Spinden entlangzuschleichen. Doch Kim und ihre zwei treuen Anhängerinnen, Lisa und Hanna, standen bereits strategisch günstig am Eingang zum Klassenraum, ein unsichtbares Tor, durch das Lena gehen musste.
"Na, schau mal einer an, wer da kriecht", sagte Kim laut genug, dass ein paar Köpfe sich umdrehten. Lisa kicherte. Hanna rempelte Lena leicht an, als sie vorbeigehen wollte, gerade so fest, dass Lenas Schulrucksack gegen die Wand schrammte und ein Stift mit einem kleinen Klappern herausfiel. Lena bückte sich schnell, um ihn aufzuheben, ihre Wangen brannten vor Scham. Als sie sich wieder aufrichtete, war Kims Fuß ausgestreckt, nicht weit genug, um sie zu Fall zu bringen, aber eine deutliche, bedrohliche Warnung. Lena überstieg den Fuß, ihr Herz raste. Keiner sagte etwas. Niemand mischte sich ein. Herr Schmidt, ihr Klassenlehrer, stand am Ende des Ganges, in ein Gespräch mit einem Kollegen vertieft, und bemerkte nichts – oder tat so, als bemerkte er nichts.
Im Klassenraum wählte Lena den äußersten Platz in der vorletzten Reihe, so nah wie möglich an der Wand, als könnte sie so verschwinden. Sarah saß mit Kim und den anderen ganz vorne, drehte Lena demonstrativ den Rücken zu. Während des Unterrichts ging das Mobbing subtiler weiter. Kleine Zettel, die von hinten nach vorne gereicht wurden, mit unleserlichen Kritzeleien, die Lena aber zu kennen glaubte. Tuscheln und Blicke, wenn Lena sich meldete. Selbst wenn sie die richtige Antwort gab, hörte sie leises, gehauchtes Gelächter oder ein zischendes "Streberin". Es war ein unerbittlicher, lautloser Angriff auf ihr Selbstwertgefühl, der sie langsam von innen aushöhlte.
In der großen Pause versuchte Lena, im Schulsekretariat unterzutauchen und einen vergessenen Termin vorzuschieben. Aber selbst dort huschte ihr ein strenger Blick der Sekretärin zu, als würde sie deren Zeit stehlen. Lena gab auf und zog sich mit ihrem halb aufgegessenen Pausenbrot auf die Toilette zurück, ein Ort der Zuflucht, wenn auch ein trostloser und übelriechender. Sie spülte das restliche Brot in der Toilette herunter. Der Anblick, wie es im Wasser verschwand, war ein schmerzhaftes Symbol für alles, was in ihrem Leben gerade verloren ging: ihre Würde, ihre Freude, ein Stück ihrer selbst.