Burkhard Keller von Yburg

(Ein Märchen aus Baden-Baden)


Prolog

Es war ein stürmischer Tag im Spätherbst, als ich durch den Wald hinaufstieg, dorthin, wo die Wege zum Schloss Hohenbaden führen. Der Regen peitschte quer über die Lichtungen, und der Wind rüttelte an den alten Buchen wie an Türen, die längst niemand mehr öffnete.
Ich suchte Zuflucht in der Schutzhütte am Kellersbild. Der Wind pfiff durch die Ritzen, und der Regen schlug gegen das schmale Fenster.
In der dunklen Ecke saß ein kleines Männlein, kaum größer als ein Kind, mit grauem Bart und Augen, die im Dämmerlicht glühten wie Kohlen. Es fror, das sah ich an seinem Zittern, und so holte ich mein Vesper hervor, brach das Brot und goss heißen Tee in die Tasse.
Er nahm das Geschenk mit zitternden Händen, trank einen Schluck, und ein leises Lächeln huschte über sein Gesicht. Dann sprach er mit einer Stimme, die klang, als käme sie aus einer anderen Zeit: "Du bist gut zu mir, Wanderer. Darum will ich dir erzählen, was hier einst geschah — die alte Sage vom Junker Burkhard Keller und dem geheimnisvollen Spiegel."

Die Sage

Es war in jenen alten Tagen, als die Wälder um Baden-Baden noch dichter rauschten, als Hirsch und Falke den Menschen gleichberechtigt das Reich der Berge teilten und die Markgrafen im Schloss über den Quellen thronten. In dieser Zeit lebte dort eine Markgräfin-Witwe, schön und still wie das Abendlicht über den Rebenhügeln. Ihr Gemahl war längst zur Erde gesunken, doch sie trug seine Erinnerung wie eine Flamme im Herzen, und kein Tag verging, an dem sie nicht im stillen Gemach für seine Seele betete.

Um sie sammelten sich Damen und Ritter, edle Gäste der Trauernden. Einer aber stand über allen: Burkhard Keller von Yburg, ein junger Edelmann von stolzem Wuchs und klarer Stirn, mit Augen, in denen Mut und Sehnsucht wie zwei Ströme gegeneinander flossen.

Doch die Zeiten hatten sein Geschlecht verarmt. Von den Türmen der Yburg blieben ihm nur Name und Erinnerung. Was er besaß, war Jugend, Anmut und das wilde Herz derer, die alles verloren und darum furchtlos lieben.

Sein Herz gehörte Klara von Tiefenau, der sanften Tochter des Kastellans von Kuppenheim. Sie war hell wie das Wasser des Paradieses, in ihren Augen spiegelte sich die Güte des Himmels, und wenn sie lachte, vergaß Burkhard die Welt. Oft schlich er in mondklaren Nächten durch den Wald, den Mantel eng gezogen, das Schwert im Gürtel, die Brust voll Sturm und Zärtlichkeit.

Doch eines Nachts, als der Nebel wie ein atmender Schleier über den Hügeln lag, kam er an jenen Ort, wo fünf Wege sich kreuzen — den die Leute ehrfürchtig Kellers Bild nannten. Da stand ein Stein, uralt, vom Wetter geschwärzt, und auf ihm ruhte eine Frauengestalt, aus Marmor geformt. Der Mond fiel auf ihr Antlitz, und es schien, als lebe sie. Ihr Haar leuchtete wie geflochtenes Silber, ihre Lippen waren so zart, dass der junge Ritter unwillkürlich innehielt. Etwas rührte sich in ihm – ein Staunen, ein Entsetzen, ein heimliches Begehren.

Er stand lange, regungslos, und als der Wind durch die Kronen der Bäume fuhr, war es ihm, als säusle eine Stimme seinen Namen.

Von dieser Nacht an war Burkhard verwandelt.

Er fragte die Alten, was es mit der Statue auf sich habe, und erfuhr, dass dort einst ein Tempel der heidnischen Venus gestanden habe – der Göttin der Liebe und der Versuchung. Niemand wusste, wie der Stein dorthin gekommen sei.

Bald zog es ihn immer wieder zu ihr. Anfangs besuchte er sie auf dem Heimweg, später suchte er sie eigens auf. Das Bild schien ihn zu erwarten, Nacht für Nacht, und das kalte Antlitz bekam mit jedem Mondstrahl mehr Leben. Wenn er sprach, glaubte er, dass sie lausche. Wenn er schwieg, dass sie atme. Und einmal, in einem Anfall von Sehnsucht, berührte er ihre Lippen – und sie fühlten sich warm an, als glühe ein verborgenes Herz darin.

Seitdem mied er Klara. Sie wartete vergeblich, Tag für Tag, mit bangem Herzen. Ihre Briefe blieben unbeantwortet, ihr Gebet verhallte ungehört.
"Etwas hat ihn mir genommen", flüsterte sie, "etwas, das nicht von dieser Welt ist." In ihren Träumen erschien er ihr – bleich, schweigend, mit einem Spiegel in der Hand, in dem sich nicht sein Gesicht, sondern das steinerne Antlitz spiegelte.
Und wirklich – der Ritter war ein anderer geworden. Er sprach wenig, lachte nie. Oft sah man ihn zur Nacht aufbrechen, den Blick leer, als folge er einem Ruf, den nur er vernahm.

Sein treuer Knappe, der ihn von Jugend auf begleitet hatte, konnte es nicht länger ertragen. Eines Abends folgte er ihm heimlich. Der Weg führte wieder zum KellersBild, und dort sah er, was kein Mensch sehen sollte.
Burkhard kniete vor dem Altar, das Schwert abgelegt, die Hände erhoben, als bete er zu einer Göttin. Ein kaltes, blaues Licht umhüllte den Stein, und die Frauengestalt begann sich zu regen.

Langsam stieg sie herab, barfuß, in einem Schimmer, der den Wald in bleiches Feuer tauchte. Sie war unirdisch schön. Ihre Augen leuchteten wie Sterne in tiefer Nacht.
Sie legte eine Hand auf Burkhards Herz und setzte ihm mit der anderen einen Kranz aus grünem Efeu aufs Haupt.
Da lächelte der Ritter – ein Lächeln, das zugleich Schmerz und Glück war – und sank still zu Boden.

Der Knappe schrie auf, doch die Gestalt zerfloss zu Nebel, und über dem Kreuzweg flatterte ein Uhu mit klagendem Schrei.

Am Morgen fand man Burkhard tot, das Haupt von welkem Efeu umkränzt. Nur der Wind, der durch die Wipfel fuhr, klang wie ein leises Flüstern – als riefe jemand einen Namen, längst verloren im Nebel der Zeit.

Epilog

Das kleine Männlein schwieg eine Weile. Nur der Regen trommelte leise auf das Dach. Dann fuhr es fort, beinahe flüsternd:
"Als der Bruder des Junkers davon hörte, erfüllte ihn Zorn und Furcht. Er ließ den Altar zerstören, den Spiegel zerschlagen, und an seiner Stelle errichtete er einen Bildstock und ein steinernes Kreuz. Sie stehen dort noch heute, am Weg hinauf zum Alten Schloss — doch die, die genau hinhören, sagen, dass an stillen Abenden der Wind wie ein Seufzer aus dem Stein erklingt."

Und wer heute bei Nacht an diesem Kreuz vorbeigeht, hört vielleicht ein fernes Raunen, zart wie Wind über Marmor:
"Burkhard…" Dann soll er weitergehen, ohne sich umzusehen – denn manche Liebe währt länger als das Leben, doch alles hat seinen Preis.

Das Männlein lächelte, als sei ihm ein altes Geheimnis entglitten. Dann stand es auf, zog die Kapuze tiefer ins Gesicht und schritt hinaus in den Regen.
Als ich ihm nach blickte, war er schon verschwunden — und für einen Moment glaubte ich, in der nassen Fensterscheibe ein Gesicht zu sehen, bleich und sanft lächelnd, wie aus einem anderen Traum.

Vielleicht war es nur der Nebel. Oder das Echo einer Liebe, die nie ganz vergeht.

© 29.12.2025 Gerd Groß