Der letzte Befehl - Die Stille ist kein Schweigen
Buch 1
DIE ANKUNFT
Kapitel 15: Unter der Haut
Örtlichkeit: Südkorea, Seoul – Stadtrand, Schulkomplex / Dachterrasse / U-Bahn
Leitmotiv: Was du nicht benennen kannst, verändert dich trotzdem.
Min-ho saß auf dem Dach der Schule, die Beine über das Geländer geschlungen.
Es war Abend, aber die Stadt war hell wie am Tag. Lichter, Werbebildschirme, Drohnen, Verkehr.
Trotzdem hatte er das Gefühl, alles sei stiller geworden.
Nicht im Außen – in den Menschen.
Seine Mitschüler lachten noch wie immer, aber es war lauter, angestrengter.
Die Lehrer wurden ungeduldig, manche fehlten plötzlich tagelang.
In den Nachrichten wiederholten sich dieselben drei Sätze:
"Keine Bedrohung."
"Bleiben Sie ruhig."
"Wir analysieren die Lage."
Min-ho glaubte keinem Wort. Nicht, weil er Angst hatte – sondern, weil etwas nicht stimmte.
Es war wie ein Klang, den nur er hörte.
Kein Ton. Kein Geräusch. Aber manchmal vibrierte seine Haut.
In Momenten, in denen niemand sprach. In Räumen ohne WLAN.
Oder, wie heute, auf dem Dach.
Er nahm einen Stift, kritzelte in sein Notizbuch. Spiralen. Bögen. Fragmente.
Nicht, weil er sie verstand. Sondern, weil sie auftauchten – wie aus seinem Inneren geschnitten.
"Du hörst es auch, oder?", sagte eine Stimme.
Min-ho fuhr herum. Ein Mädchen aus der Parallelklasse. Er kannte sie kaum.
Sie saß auf dem Dachrand gegenüber, lächelte nicht.
"Ich höre es nicht. Aber ich fühle es", antwortete er.
Sie nickte. Und sagte dann:
"Es kommt nicht von oben. Es kommt von innen."
Später, in der U-Bahn, starrte Min-ho aus dem Fenster in die Dunkelheit des Tunnels.
Die Lichter flackerten kurz. Nicht wie Stromausfall – mehr wie ein Zögern.
Und dann sah er es.
Eine Spiegelung im Glas.
Sein Gesicht. Aber es war nicht ganz seins.
Der Blick – tiefer.
Die Haltung – aufrechter.
Für den Bruchteil einer Sekunde: nicht er selbst.
Als die Lichter wieder normal wurden, war das Bild verschwunden.
Doch Min-ho wusste: Etwas hatte ihn gesehen. Und es hatte gewartet, dass er es bemerkt.
Am nächsten Morgen lag ein Zettel in seinem Spind.
Kein Name. Keine Adresse. Nur ein Symbol.
Spiralig. Lebendig.
Dasselbe wie in seinem Notizbuch.
Letzter Satz:
Noch nie hatte Min-ho sich so allein gefühlt – und zugleich so sicher, dass er beobachtet wurde.