Mehr als Gold - Die Reise zu inneren Wahrheit
Kapitel 3
Die flüsternden Gesichter und das Versprechen der Alten
Der Weg führte Hans tiefer in das Reich der knorrigen Giganten. Hier standen die Bäume nicht einfach nur – sie kauerten und reckten sich, ihre dicken, verdrehten Stämme wie arthritische Glieder, die sich mühsam gen Himmel streckten. Dunkle Rinde zog sich in tiefen Falten wie versteinerte, stumme Münder zusammen, und wo Äste aus dem Holz brachen, klafften höhlenartige Vertiefungen wie blinde, hohläugige Augenhöhlen. Lange, graue Flechten hingen wie unheimliche Bärte herab und schaukelten leise im nun stärker werdenden Wind. Das Rauschen des Gertelbachs war zu einem fernen, kaum hörbaren Murmeln verblasst, und eine drückende Stille, fast wie das Anhalten des Atems, lag über dem Wald. Es war die Stille eines Ortes, der nicht von Menschenhand geformt war, ein uraltes Schweigen, das nur darauf wartete, gebrochen zu werden.
Als der Wind durch die Wipfel fuhr, verstärkte sich das unbestimmte Summen zu einem deutlichen Raunen, das nun eine unheimliche Lebendigkeit annahm. Es klang nicht länger nach Wind, sondern nach unzähligen, gequälten Stimmen, die gleichzeitig flüsterten, krächzten und seufzten. Hans hielt unwillkürlich an, sein Herz begann schneller zu schlagen. Er wagte es kaum, die dunklen, knorrigen Stämme anzusehen, doch er spürte instinktiv, dass er beobachtet wurde. Ein Gefühl, als würden unsichtbare Augen seine jede Bewegung verfolgen, legte sich wie ein feuchter Schleier auf seine Haut.
In einem dicken Baumstamm erkannte er schemenhaft die Umrisse eines grimmigen Gesichtes. Tiefe Rillen bildeten zusammengekniffene Augen, und ein rissiger Spalt darunter wirkte wie ein verbitterter Mund, der kaum hörbar knurrte. "Mühsal...", krächzte der Baum, das Geräusch schien direkt aus seinem holzigen Inneren zu kommen. "Last... schwer..." Hans spürte einen Stich in seinen müden Gliedern, als würde die Erschöpfung des Baumes auf ihn übergehen. Ein anderer Baum, dessen verdrehter Wipfel wie eine qualvolle Grimasse aussah, stöhnte leise: "Weg... verirrt... Suche..." Hans' Blick schweifte unwillkürlich zu dem unübersichtlichen Pfad. Hatte er sich wirklich verirrt, oder war dies nur eine Prüfung?
Hans fühlte, wie sich ihm die Nackenhaare aufstellten. Er versuchte, sich einzureden, dass es nur das Spiel von Licht und Schatten war, das ihm diese unheimlichen Gesichter vorgaukelte, doch die geflüsterten Worte waren zu deutlich, zu persönlich. Und sie trugen eine seltsame Resonanz in sich, als würden sie direkt in seine Gedanken dringen.
Ein dritter Baum, dessen silbrig flimmernde Blätter wie unruhige Augenlider wirkten, hauchte mit einem heiseren Wispern: "Nicht sehen... was ist... nah..." Der Wind schien durch einen rissigen Spalt in seinem Stamm zu wehen, als würde der Baum tatsächlich sprechen. Ein unbestimmtes Gefühl der Vorahnung überkam Hans, eine Ahnung, dass etwas Wichtiges direkt vor ihm lag, das er bisher nicht erkennen konnte.
Nach dieser beunruhigenden Begegnung mit den flüsternden Bäumen wurde der Weg zusehends steiler, steiniger und enger. Die Räder des Karrens rumpelten und stießen über immer größere Felsbrocken, und Willi schnaubte angestrengt, seine Muskeln spielten unter seinem Fell. Hans musste mehrmals anhalten, um das ächzende Gespann über besonders schwierige Passagen zu manövrieren. Jeder Schritt war ein Kampf, und der Druck, den Karren und dessen Inhalt unversehrt zu lassen, lastete schwer auf ihm.
Schließlich erreichte der Pfad eine Stelle, an der es unmöglich wurde, mit dem Karren weiterzukommen. Vor ihm ragte steil und trutzig der Brockenfelsen auf, seine schroffen Klippen mit ihren dunklen Spalten wie versteinerte, grimmige Gesichter, die ihn von hoch oben zu beobachten schienen. Der Zugang schien auf einen schmalen, windungsreichen Pfad begrenzt zu sein, der sich an der Felswand entlang schlängelte und einen tiefen Abgrund zur Seite offenbarte. Der Wind heulte hier lauter, trug das Geräusch des Gertelbachs wieder näher heran, doch jetzt klang es wie ein fernes, bedrohliches Grollen.
Seufzend hielt Hans an. "Hier müssen wir wohl Rast machen, alter Freund", sagte er zu Willi, dessen Flanken schwer atmenden gingen. Er löste das Zaumzeug und tätschelte Willis Hals. "Warte hier auf mich." Er blickte in Willis treue, dunkle Augen, die ihm eine Mischung aus Müdigkeit und Vertrauen entgegenbrachten. Der Gedanke, seinen Freund hier allein zu lassen, schnürte ihm kurz die Kehle zu, doch es gab keinen anderen Weg.
Als Hans sich umwandte und den schmalen Pfad zum Brockenfelsen einschlug, bot sich ihm plötzlich eine weite Panoramaaussicht. Sein Blick schweifte über die Baumwipfel des Waldes, durch den er gekommen war, über die weite, grüne Decke der Oberrheinischen Tiefebene, die sich unter ihm ausbreitete. Am fernen Horizont, wie zarte Schatten am Himmel, erhoben sich die majestätischen Vogesen, und selbst das filigrane Straßburger Münster war von hier oben als winziger, spitzer Umriss zu erkennen. Eine atemberaubende Schönheit, die jedoch von einer seltsamen, unheimlichen Ruhe überschattet wurde. Er erkannte in der Ferne die dunkelgrünen Wipfel der sprechenden Bäume und spürte noch immer das unheimliche Gefühl ihrer Präsenz. Trotz der herrlichen Weite, die sich ihm nun bot, wirkte sie distanziert und gefährlich, als würde sie eine trügerische Ruhe vor dem Sturm verbergen. Der schmale Pfad fühlte sich nicht wie ein normaler Weg an, sondern wie ein dünner Faden, der ihn tiefer in das Herz dieser fremden, lebendigen Landschaft zog. Er hatte das unheimliche Gefühl, dass der Brockenfelsen und die sprechenden Bäume auf unheimliche Weise miteinander verbunden waren, stumme Wächter einer verborgenen Welt, während Willi allein und zurückgelassen am Fuße des steilen Anstiegs wartete. Die Luft knisterte förmlich vor ungesagten Geheimnissen, und Hans konnte nicht anders, als zu glauben, dass jede dieser alten Stimmen, die ihn gewarnt und ihm gleichzeitig ein Rätsel aufgegeben hatten, ein Teil eines größeren, unheilvollen Spiels war, in das er unwissentlich hineingezogen wurde.
© 26.05.2025 Gerd Groß