Die Sage vom Felsenweg (08.04.2023)

Eine Geschichte der Steine, der Sehnsucht und der Hoffnung
Hoch oben, wo die schroffen Felsen des oberen Achertals in den Himmel ragen und der Felsenweg sich wie ein steinernes Band durch den Wald windet, liegt eine Geschichte verborgen, die älter ist als die knorrigen Eichen und tiefer als die Schluchten des Simmersbachtals. Die Alten im Tal erinnern sich noch an Erzählungen von einer Zeit, da waren die "Trolle" nicht nur Furcht einflößende Wesen der Nacht, sondern ein Teil ihrer Gemeinschaft – arme Bergleute, Köhler und Tagelöhner, deren Leben so hart und steinig war wie die Felsen selbst. Verachtet von den wohlhabenden Schichten, die ihren Reichtum auf dem Rücken anderer erbauten, zogen sie sich immer weiter in die unwegsamen Höhen zurück, bis ihre Existenz in den Sagen zu gruseligen Fabelwesen verzerrt wurde. Die Felsen wurden zu ihrem stillen Refugium, ein Mahnmal der sozialen Ungerechtigkeit, das auf eine Zeit des Friedens und der Gleichheit wartet, um seine Bewohner wieder freizugeben.
In dieser Zeit der tiefen Kluft zwischen Besitz und Besitzlosigkeit lebte in Ottenhöfen ein junges Mädchen namens Anna. Ihre Schönheit war still und doch von einer inneren Glut, die sich in ihren dunklen Augen und dem sinnlichen Schwung ihrer Lippen zeigte. Doch ihr Stand – die Tochter eines einfachen Bauern – war ihr in einer Welt starrer sozialer Mauern zur Last gelegt. Als der junge, ansehnliche Edelmann Friedrich ihren Weg kreuzte, entflammte eine verbotene Leidenschaft. Ihre heimlichen Treffen im Schutz der dichten Wälder waren erfüllt von zärtlichen Berührungen, dem flüchtigen Kuss seiner Lippen auf ihre Haut, dem Versprechen einer Zukunft, die die starren Grenzen ihrer Welten überwinden sollte. Auf dem aussichtsreichen Sesselfelsen tauschten sie nicht nur verliebte Blicke, sondern auch erste, zaghafte Liebkosungen, die Annas Wangen erröten ließen und Friedrichs Verlangen weckten – das sanfte Streichen seiner Hand über ihren Arm brannte sich in ihr Gedächtnis ein wie die warme Glut eines verborgenen Feuers, eine Erinnerung, die in ihren einsamen Nächten schmerzlich wiederkehrte.